Ist das biologische Geschlecht eines Menschen eine relevante Kategorie für die Anthropologie, also die Forschung über den Menschen? Darüber wollten sechs Forscherinnen unterschiedlicher Fachrichtungen Mitte November auf einem wissenschaftlichen Kongress in Toronto diskutieren - doch dazu wird es nicht kommen, stattdessen herrscht offener Streit. Die Veranstalter haben die Runde abgesagt, aus Gründen der Sicherheit und um die Wissenschaftlichkeit zu wahren, hieß es. Die betroffenen Wissenschaftlerinnen kritisieren diese Entscheidung scharf: In einem offenen Brief schreiben sie, das Aus sehe sehr nach einer "wissenschaftsfeindlichen Reaktion auf eine politisierte Lobbykampagne aus".
In der Wissenschaft und im öffentlichen Leben sei zwar immer weniger vom biologischen Geschlecht die Rede und mehr vom sozialen (englisch: gender). Doch für anthropologische Fragen sei doch das biologische Geschlecht (englisch: sex) "unersetzbar relevant": So hieß es in der Ankündigung der Runde für das Jahrestreffen der American Anthropological Association (AAA) und der Canadian Anthropology Society (CASCA). Im Juli hatte das Programmkomitee den Vorschlag angenommen. Nun erhielten die Forscherinnen eine kurze Nachricht von den Organisatoren, dass ihre Session gestrichen wurde. Zahlreiche Mitglieder der Verbände hätten dies gefordert, heißt es in dem Schreiben. Nach ausführlichen Beratungen sei daher entschieden worden, die Veranstaltung aus dem Programm zu nehmen, "im Geiste der Achtung unserer Werte, der Sicherheit und Würde unserer Mitglieder und der wissenschaftlichen Integrität des Programms". Man habe die Sitzung näher untersucht, weil "die Ideen in einer Art und Weise vorgebracht wurden, die den Trans- und LGBTQI-Mitgliedern der anthropologischen Gemeinschaft wie auch der Gemeinschaft insgesamt schaden würde".
Welcher Aspekt der geplanten Vorträge solchen Schaden anrichten würde, wird nicht genauer ausgeführt. Und nachdem die Verbände zuvor keine der Forscherinnen kontaktierten, um über kritische Punkte zu sprechen, sei die Absage "ein Schock gewesen", schreiben die sechs in einem offenen Brief - insbesondere wegen des Vorwurfs, die zu diskutierenden Ideen würden vorgebracht, um jemandem Schaden zuzufügen. Sie seien verwundert darüber, dass die AAA und die CASCA es zum offiziellen Standpunkt machten, dass "die Unterstützung der weiteren Verwendung biologischer Geschlechtskategorien wie männlich und weiblich, Mann und Frau die Sicherheit der LGBTQI-Gemeinschaft gefährdet".
Als "ungeheuerlich" bezeichnen die Wissenschaftlerinnen den Vorwurf, ihre Vorträge würden die wissenschaftliche Integrität des Programms gefährden. Die Entscheidung, "unser Panel zu verbannen", würden Anthropologen weltweit als "Kriegserklärung an den Dissens und an die wissenschaftliche Kontroverse" verstehen. "Wäre unser Panel zugelassen worden, wir hätten uns auf eine lebhafte Auseinandersetzung gefreut - wahrscheinlich sogar untereinander, da unsere Ansichten sehr unterschiedlich sind."