Am Ende war der Druck der horrenden Preissteigerungen in der Türkei wohl doch zu groß. Die türkische Zentralbank TCMB hat den Leitzins am Donnerstag nicht weiter gesenkt, sondern auf 14 Prozent gehalten. Viermal in Folge hatte die TCMB seit September die Kreditkosten verringert, trotz steigender Inflationsraten und des Absturzes der Lira. Die türkische Währung hat im vergangenen Jahr binnen drei Monaten fast die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Dollar verloren, was Experten zufolge hauptsächlich auf die Zinssenkungen zurückzuführen ist. Der Absturz der Lira beschleunigte die ohnehin hohe Inflation, die im Dezember mit 36 Prozent den höchsten Stand seit fast zwei Jahrzehnten erreichte. Ein Ende der geldpolitischen Ausnahmesituation in der Türkei ist damit aber noch nicht in Sicht.
Zuletzt ließ der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zwar mildere Töne anklingen, stellte für das Jahr allerdings keine grundsätzliche Richtungsänderung in Aussicht: "Der Wechselkurs und die Zinssätze werden langsam, schrittweise und ohne Eile sinken", um 2022 zu "unserem besten Jahr" zu machen, zitierte die staatliche Agentur Anadolu Erdoğan am Dienstag. Seit September hat die türkische Zentralbank den Leitzins schrittweise von 19 auf 14 Prozent gesenkt, was dazu führte, dass die Währung immer weiter abrutschte. Während ein Dollar im September noch zwischen acht und neun Lira kostete, stieg der Preis für einen Dollar zwischenzeitlich auf mehr als 18 Lira, mittlerweile sind es rund 13,5 Lira. Infolge des Währungsverfalls wurden die Importe für das Land teurer. So lagen die Erzeugerpreise türkischer Produzenten sogar knapp 80 Prozent über dem Vorjahresniveau. Immer wieder versuchte die Zentralbank mit Markteingriffen die Lira zu stabilisieren. Ende Dezember steuerte die TCMB mit einem großen Lira-Ankaufprogramm gegen den Kursverfall, zudem wurden Lira-Konten eingerichtet, die Einlagen in der Landeswährung absichern sollen.
Um der überbordenden Teuerungsrate und dem Währungsverfall langfristig etwas entgegenzusetzen, müssten die Währungshüter - dem allgemeinen ökonomischen Konsens folgend - eigentlich die Leitzinsen anheben. Doch Erdoğan verordnet seinem Land seit Jahren eine unorthodoxe Geldpolitik. Mit den niedrigen Zinsen beabsichtigt Erdoğan einerseits die Wirtschaft anzuheizen, Investitionen zu stimulieren und Exporte attraktiver zu machen. Andererseits gibt er auch vor, damit die Inflation in den Griff bekommen zu wollen, die allerdings eher das Ergebnis zu niedriger Zinsen ist denn zu hoher. Trotz aller Kritik hat Erdoğan seinen Kurs immer wieder verteidigt, so auch im Dezember nach der vergangenen Zinssenkung: "Wir haben gekämpft, um die Wirtschaft aus dem Kreislauf von hohen Zinsen und hoher Inflation zu retten." Die Verantwortung für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sieht Erdoğan dagegen diffus bei ausländischen Mächten, wähnt sein Land in einer Art wirtschaftlichem Befreiungskampf.
Seit 2019 gab es bereits vier Zentralbankchefs
Neben der abenteuerlichen Geldpolitik selbst stellt das verloren gegangene Vertrauen in die Unabhängigkeit der TCMB ein großes Problem für die türkische Wirtschaft dar. Erdoğan hat einen hohen Verschleiß an Zentralbankern; Vorsitzende der TCMB hat er immer wieder entlassen, wenn sie sich seinem Kurs nicht unterordneten. Der jetzige Chef der TCMB, Şahap Kavcıoğlu, ist bereits Nummer vier seit 2019 und war bislang auf Linie des Präsidenten. Ausländische Kapitalgeber, die die türkische Wirtschaft dringend bräuchte, schreckt die Unberechenbarkeit der türkischen Geldpolitik ab. Nicht besser sieht es beim Finanzministerium aus. Dessen bisherigen Chef, Lütfi Elvan, entließ Erdoğan Anfang Dezember, weil er die Niedrigzinspolitik des Präsidenten nicht weiter mittragen wollte.
Sein Nachfolger, Nureddin Nebati, inszeniert sich dagegen als treuer Anhänger Erdoğans. Während Ökonomen führender Wall-Street-Banken wie JP Morgan Chase und Goldman Sachs es für möglich halten, dass sich die Inflation im Laufe dieses Jahres noch deutlich hochschrauben könnte, geht Nebati von einem baldigen Höhepunkt der Teuerungsrate aus, wie er vor einer Woche in einem Interview erklärte. Im Januar würden die Schwäche der Lira und die steigenden Energiekosten die Inflation zwar noch verstärken, doch danach würde die Inflation, auch bedingt durch einen Rückgang der Lebensmittelkosten im Sommer, auf ein niedrigeres Niveau Ende 2022 sinken - ein Timing, das für die politische Zukunft Erdoğans entscheidend sein könnte, denn im kommenden Jahr stehen Wahlen an. "Wir werden bei den Parlamentswahlen im Juni 2023 mit einer einstelligen Inflation antreten", so Nebati. Das dürfte Erdoğan gern hören.