Tarifkonflikte:Warum die Streiks nicht so schlimm sind

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Fährt da noch was? Ein Reisender hat die Hoffung im Berliner Hauptbahnhof noch nicht aufgegeben. (Foto: Annegret Hilse/REUTERS)

Angesichts der vielen Streiks im Zug- und Flugverkehr wundert man sich nicht mehr nur im Ausland über Deutschland. Dabei ist der volkswirtschaftliche Schaden bisher eher gering.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wer diese Woche im drittgrößten Industrieland der Erde eine Reise antreten wollte, dem blieben oft nur die folgenden Optionen: die stockende Fahrt auf einer verstopften Autobahn, ein schweißtreibender Ritt auf dem Fahrrad oder ein langer Fußmarsch. Der Zug und das Flugzeug hingegen, die beiden bevorzugten Verkehrsmittel für mittlere und längere Distanzen, standen meist nicht zur Verfügung, weil die Deutsche Bahn, die Lufthansa und mehrere Flughäfen bestreikt wurden - wieder einmal und diesmal auch noch zeitgleich.

Manchen Bundesbürger beschlich deshalb in den vergangenen Tagen wohl ein Gefühl, wie es die Neue Zürcher Zeitung gewohnt Ampel-kritisch in einem Kommentar zusammenfasste: Deutschland, so hieß es, sei "im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Republik des Stillstands" geworden. "In dem Land, das lange als Hort der Verlässlichkeit und Heimat der Pflichtbewussten bewundert wurde, herrschen an vielen Ecken mittlerweile italienische oder griechische Verhältnisse. Der Streik von Lokführern und Lufthansa-Mitarbeitern steht dabei als Symbol für diese neue deutsche Bewegungslosigkeit", schrieb der Leitartikler. Dabei beschränke sich der Stillstand nicht auf Bahntrassen und Flugrouten, vielmehr wirke auch das Berliner Regierungsviertel angesichts der ungezählten faulen Kompromisse von SPD, Grünen und FDP seit Monaten "wie paralysiert".

Nun würden nicht einmal die Ampel-Koalitionäre selbst behaupten, dass sie das Land bisher effizient und geräuschlos regiert hätten. Dennoch stellt sich die Frage, ob es angesichts der jüngsten Streikwelle tatsächlich so ist, dass sich hier ein einst florierendes Industrieland systematisch zugrunde richtet - oder doch eher Zufall.

Gemessen am BIP beträgt der Schaden eines Streiktags 0,002 Prozent

Glaubt man Hagen Lesch, Arbeitsexperte beim Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW), dann gibt es derzeit zwar viele Tarifkonflikte, aber auch nicht mehr als im letzten Frühjahr. "Aktuell sind wir stark betroffen, da sehr viel im Verkehrssektor gestreikt wird. Dass es im Gegensatz zu früher aber mehr Arbeitskämpfe gibt, lässt sich statistisch bislang nicht belegen", sagte er der Wirtschaftswoche. Allerdings werde heute früher gestreikt als in Tarifauseinandersetzungen vergangener Jahrzehnte. Zudem dauerten Warnstreiks nicht mehr Stunden, sondern Tage.

Gesamtwirtschaftlich gesehen ist der Schaden, den die Arbeitskämpfe anrichten, bisher dennoch kaum nennenswert. Nach einer vorsichtigen Schätzung des IW verursacht ein Streiktag im Zugverkehr Kosten von rund 90 Millionen Euro. Betroffen sind vor allem die Bahn selbst, Hotels und Restaurants, deren Gäste nicht anreisen können, und Bahnhofsläden, die keine belegten Brote oder Zeitschriften verkaufen können. So schmerzhaft das für den ein oder anderen Geschäftsinhaber ohne jeden Zweifel ist, so wenig trifft ein solcher Tag die deutsche Volkswirtschaft: Bei einem jährlichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von zuletzt 4,1 Billionen Euro entspricht ein Ausfall von 90 Millionen Euro einem Anteil von gut 0,002 Prozent.

Das alles bedeutet natürlich nicht, dass der Ärger vieler Reisender über die Zug- und Flugausfälle nicht zurecht groß wäre. Die Lokführer-Gewerkschaft GDL setzte am Freitag ihren bereits am Vortag begonnenen 35-stündigen Streik fort, mit dem sie die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für ihre Mitglieder erzwingen will. Ein Großteil der Zugverbindungen fiel entsprechend aus. Auch nach dem Ende des Ausstands wurde noch mit erheblichen Beeinträchtigungen gerechnet. Bis der Regional- und Fernverkehr wieder normal rolle, werde es voraussichtlich bis Samstagmorgen dauern, hieß es bei der Bahn. Auch der Regional- und S-Bahn-Verkehr war betroffen. Reisenden wurde geraten, sich im Internet über die aktuellen Fahrpläne zu informieren.

Die Bahn bietet der GDL die Wiederaufnahme der Tarifverhandlungen an

Auch der Luftverkehr war weiter gestört, weil das Lufthansa-Bodenpersonal seine am Mittwoch begonnenen Warnstreiks fortsetzte. In Köln/Bonn und Düsseldorf etwa wurden alle für Freitag geplanten Flüge nach München und Frankfurt abgesagt, insgesamt musste der Konzern nach Angaben eines Sprechers rund 1000 Flüge streichen. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi wollte den Ausstand noch bis Samstagmorgen um 7.10 Uhr fortsetzen, die Lufthansa rechnete daher auch für das beginnende Wochenende noch mit Verspätungen und einigen Ausfällen. Der Flugverkehr werde sich dann im Laufe des Samstagvormittags normalisieren, hieß es. Der Warnstreik des Sicherheitspersonals verschiedener Firmen, der am Donnerstag zu langen Schlangen an den Röntgenschleusen geführt und den Betrieb an den Flughäfen zusätzlich belastet hatte, endete dagegen in der Nacht zu Freitag.

Auch in den Tarifstreit bei der Bahn kam am Freitag Bewegung, ein wenig jedenfalls: Die Bahn lud die GDL ein, die abgebrochenen Tarifverhandlungen am Montag wieder aufzunehmen - in den "bekannten Räumen im Hauptbahnhof in Berlin".

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