Politiker waren lange fixiert auf die ökonomische Seite der Digitalisierung, auf ihre Rolle für den "Standort Deutschland", für Arbeitsplätze und Wachstum. Das hat ihnen die Sicht darauf verstellt, dass auch ihr eigenes Geschäft Disruption unterworfen ist: jener radikalen, ebenso kreativen wie zerstörerischen Umwälzung, die die Digitalisierung schon Musikindustrie, Medien und anderen Branchen beschert hat.
Im politischen Raum sind es die sozialen Netzwerke, allen voran Facebook, von denen die Erschütterungen ausgehen. Sie erfassen nicht Politik als Ganzes, aber doch einen der wichtigsten demokratischen Prozesse: den Wahlkampf.
Aus Sicht der Parteien war Facebook in den vergangenen Jahren höchstens ein Kanal, über den sie ein bisschen Werbung ins Volk streuten und eventuell ein paar Fragen von Bürgern empfingen. Die Medien beschäftigten sich vor allem damit, welche Auswirkungen Facebooks Kontrolle über Nachrichten auf ihr eigenes Geschäftsmodell hat.
Mit dem Aufstieg von Trump und der AfD ist endgültig klar geworden: Praktisch alle Beteiligten haben unterschätzt, wie fundamental sich das Zusammenspiel von Bürgern, Politikern und anderen Institutionen gerade verändert.
Die Disruption der Demokratie haben einige Autoren für den neuen Nationalismus verantwortlich gemacht. Abgesehen davon, dass der ganz analoge Wurzeln hat und auch Auto und Fernsehen zunächst als moralisch verwerflich galten: Wenn es um Politik geht, ist noch unklar, wie sich das Ausmaß der Veränderungen messen lässt. Das zeigt allein die schwierige Debatte darüber, ob "Filterblasen" überhaupt existieren. Festhalten lassen sich aber eine Reihe von Phänomenen, die die Demokratie verändern.
Neue Demokratie
Keine Politik ohne Kommunikation - und keine Kommunikation mehr ohne Facebook und Google. Beide sind die mächtigsten Akteure für den Austausch und den Konsum von Informationen. In Facebooks Fall trifft das Prinzip der Online-Werbung - die datengetriebene Jagd nach Aufmerksamkeit in Form von Klicks - direkt auf einen jener Räume, in dem sich die Gesellschaft politische Meinung bildet.
Facebook zentralisiert zwar die Macht über die Verbreitung von Informationen und die Abschöpfung der Gewinne, die diese abwirft. Aber zugleich hat das Netzwerk die Möglichkeit dezentralisiert, Informationen ins System einzuspeisen, ja es hat sie totaldemokratisiert: Jeder kann mitreden, jederzeit. Ganz ohne Verfassungsänderung ist die repräsentative, auf Konsens und Institutionen ausgerichtete Demokratie mit einem System pausenloser Meinungsbildung und Meinungsmache ergänzt worden.
Facebook:Filterblase? Selbst schuld!
Wer im Internet keine anderen Meinungen mehr sieht, sollte dafür nicht Algorithmen verantwortlich machen. Nutzer können etwas tun - und Facebook ebenso.
Geschwindigkeit ist plötzlich zentral im Wahlkampf. Die Erwartungshaltung, die so bei manchen Bürgern entsteht, ähnelt der von Amazon-Kunden: Sie möchten, dass der Politiker sofort "liefert" - sich also umgehend um ihre individuellen Anliegen kümmert. Das politische System mit seinen geordneten, oft zähen Abläufen ist dafür nicht gebaut.
Medienforscher Bernhard Pörksen spricht vom "kommentierenden Sofortismus", also: "Ad-hoc-Interpretation mit maximalem Wahrheitsfuror". Markantestes Beispiel ist das Ritual, nach Gewalttaten in sozialen Netzwerken die Herkunft des noch unbekannten Täters zu behaupten und den Behörden Vertuschung vorzuwerfen, noch bevor nur die rudimentärsten Fakten bekannt sind. Im Social-Gewitter nach oder während großer Ereignisse muss aber inhaltliche Tiefe nicht zwangsläufig zu kurz kommen, das beweist das Format des Twitter-Threads von Augenzeugen, Fach-Journalisten oder Wissenschaftlern, die schnell und oft mit viel Hintergrundwissen aufklären. Aber auch wenig durchdachter Sofortismus wirkt nach, insbesondere wenn große Medien sich auf provokante Beiträge stürzen und ihnen noch mehr Breitenwirkung verschaffen.
Neue Macht
Was bedeutet Facebook für das Machtverhältnis zwischen Politikern und Bürgern? Eine ökonomische Analogie des Tech-Bloggers Ben Thompson liefert die Antwort: "Die Macht hat sich von der Angebots- auf die Nachfrageseite verlagert." Das bedeute:
Ob eine Botschaft durchschlagenden Erfolg hat, also viele Leute erreicht, hängt nicht mehr davon ab, wer sie verbreitet - sondern davon, wie viele Leute sie hören und weiterverbreiten wollen. Deutsche Politiker müssen noch lernen, die Wirkung ihrer Worte oder Taten zu kalkulieren: Gehen sie viral, werden sie gelikt, rufen sie einen Shitstorm hervor oder werden sie ignoriert? Bei weitem nicht alle haben die neuen Mechanismen verstanden wie Trump.
Thompson schreibt: "Es gibt keinen Anreiz für Facebook, explizit eine bestimmte Art von Content zu bevorzugen, außer er treibt Interaktionen an." Das verändert den Wahlkampf.
Neue Akteure
Auf diesem Spielfeld ohne Eintrittsbarrieren haben Medien und Politiker Gesellschaft bekommen. Viel Gesellschaft. Fachleute mit eigenen Accounts, Satiriker, Schreibtisch-Radikale, getarnte Propaganda-Gruppen, alternative Medien, manche intelligent und kritisch, andere auf abstruse Ideen von Verschwörungen fixiert.
Die einstigen Gatekeeper sind nur noch wenige unter vielen, manche mit mehr, andere mit weniger Glaubwürdigkeit. Heute mischt Jan Böhmermann per Schmähgedicht in der Debatte über den Umgang mit der Türkei mit und wird zum Darling der Liberalen. Auf der gegenüberliegenden politischen Seite stehen Blogger, die gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung polemisieren und dafür von vielen Rechten und ganz Rechten gefeiert werden. Solche Akteure sind das politische Äquivalent zu Instagram-Influencern, nur dass sie nicht aussehen wie Models und statt Marken-Handtaschen politische Kritik und Slogans - oder blanke Propaganda - an ihre Follower bringen. Bei denen genießen sie jene Glaubwürdigkeit, die traditionelle Medien unter diesen Menschen verloren haben oder nie hatten.
Der Wahlkampf ist nicht mehr national begrenzt. Russische Auslandspropaganda wird via RT Deutsch und Sputnik direkt in deutsche Debatten eingespeist (laut BND gibt es allerdings keinen Beweis für eine großangelegte Desinformationskampagne der russischen Regierung). Der Vorsitzende einer ausländerfeindlichen Schweizer Kleinstpartei hat viele Facebook-Fans unter Deutschlands Rechten, insgesamt hat er doppelt so viele wie die deutsche FDP (auch wenn Medienberichten zufolge ein Teil seiner Follower gekauft worden sein soll). In der rechten Sphäre hantieren "Influencer" (teils anonym) mit statistisch unseriösen, selbst zusammengeschusterten Landkarten und Tabellen zur "Flüchtlingskriminalität" - wer unter ihren Fans wird sie nachprüfen? Linke zitieren nach den Übergriffen von Köln Zahlen zu Vergewaltigungen auf dem Oktoberfest - die dann wiederum auf rechten Blogs auseinandergenommen werden.
Mehr Information heißt auch: mehr Desinformation. Allerdings: Propaganda - das Wort muss neu gedacht werden. Im allgemeinen Verständnis geht sie von staatlichen Akteuren oder Medien aus, die von Staaten gelenkt werden. "Heutzutage kann jeder zum Propagandisten werden", sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Lena Frischlich von der Uni Münster. "Wobei man auch unbewusst dazu werden kann." Sie erzählt von ihrer Mutter, die verunsichert nachfragte, was es auf sich habe mit der vergifteten CD mit Koranversen. Diese erfundene Geschichte hatte sich massenhaft über Whatsapp verbreitet.
Der Fall ist typisch für die Entwicklung, die Soziologin Zeynep Tufekci beschreibt: Bürger nutzen die neuen Kommunikationswege für ihre eigene Politik, dazu brauchen sie weder den Ortsverein einer Partei noch die Stadtteil-Initiative: "Sie teilen persönliche Geschichten und Erfahrungsberichte, die ihr gemeinsames Narrativ stützen. Darin vermischt sich oft die Politik des rassistischen Ressentiments mit falschen Behauptungen und Fakten, die von jenen mächtigen Institutionen ignoriert werden, die diese Menschen hassen."
Facebooks eigene Analyse beschreibt den quasimilitärischen Charakter dieser Versuche. In einem Bericht erklärte das Netzwerk vergangene Woche: Neben allen positiven Entwicklungen biete Facebook auch "bösartigen Akteuren" die Möglichkeit, ein weltweites Publikum mit "Information Operations" zu erreichen. Der militärische Begriff steht für gezielte Versuche, "den Informationsraum zu beherrschen". Sie können über extra angelegte Fake-Accounts laufen, auch automatisiert. Sie verbreiten bestimmte politische Botschaften en masse weiter, um andere Positionen untergehen zu lassen. Facebook selbst spricht von "falschen Verstärkern". Auch während des US-Wahlkampfes hat es dem Unternehmen zufolge solche Operationen gegeben.
Aber wenn denn der Informationskrieg ausbricht, dann ist er auch ein Informations-Bürgerkrieg.
Das kann dazu führen, dass Figuren wie der Ex-Big-Brother-Bewohner Jürgen Milski, der politischen Einflussnahme lange unverdächtig, mit einem Facebook-Rant über mutmaßlich ausländische Dealer am Kölner Rheinufer plötzlich von rechts gefeiert und von links verhöhnt wird.
Auch von Kollektiven kann Propaganda blitzschnell im System verbreitet werden. Sie sprechen sich in geschlossenen Facebook-Gruppen oder auf Boards wie 4Chan ab, und schlagen los. Auslöser kann sein, dass radikale Influencer einzelne politische Gegner öffentlich angehen und Fans der Polemiker mit Beleidigungen gegen den Account der "Zielperson" nachtreten. "Silencing" nennt sich die Strategie, Menschen wegen ihrer politischen Positionen zum digitalen Schweigen zu bringen. Verstärkt werden kann das durch immer intelligenter agierende Bots, die entsprechende Texte per Link weiterverbreiten oder gar in die Beleidigungsorgien einstimmen, etwa mit rassistischen Memes.
Wahlkampf in sozialen Netzwerken:Der Facebook-Faktor
2017 findet Wahlkampf auch auf Facebook statt. Und die Betonung liegt auf "Kampf". Wie dort Politik gemacht wird und das soziale Netzwerk die Bundestagswahl beeinflusst.
Jeder wird zum Aufmerksamkeits-Hacker
Personen und Kleingruppen können also leichter großen Einfluss in Debatten ausüben - wenn sie das neue Spiel verstanden haben. Autor Clay Shirky analysiert nüchtern: "Die Parteien kontrollieren keine essentielle Ressource mehr." Digitale Kommunikation bedeutet: null Vertriebskosten, null Transaktionkosten. Das gilt auch für die Verbreitung politischer Informationen. Es gibt Hebel, um Debatten zu beeinflussen, die es vor der Social-Ära nicht gab. So wie die zahlenmäßig kleine Alt-Right-Bewegung vor der US-Wahl vom Forum 4Chan aus eine unabhängige, auf das Netz zugeschnittene Wahlkampagne für Trump lostrat (ihr Einfluss ist allerdings umstritten). Der linke Teil Amerikas organisiert in geschlossenen Online-Gruppen gerade den Widerstand gegen Trump, seine Hashtags lauten #smallacts oder #resist. An solchen Ideen orientiert sich die SPD, wenn sie unter dem Schlagwort " Schulzzug" versucht, Euphorie für Martin Schulz zu wecken. Seit das Umfragehoch der Partei gebremst ist, wird die Formulierung fast nur noch ironisch von Gegnern des Kandidaten verwendet. Ein weiteres Hashtag ist gekapert worden.
Danah Boyd hat dazu die These vom "Hacken" der Aufmerksamkeitsökonomie entwickelt: Politische Manipulation wird demokratisiert, Akteure suchen von allen Seiten Möglichkeiten, das System aus traditionellen und sozialen Medien kurzzeitig zu kapern (Hacken definiert Boyd als: "mit technischen und sozialen Fähigkeiten die Grenzen von Systemen austesten"). Wenn politische Werbung technisch genau wie kommerzielle virale Werbung funktionieren kann, dann kann jeder mit der richtigen Taktik im richtigen Augenblick die Aufmerksamkeit im Netz auf seine Themen ziehen.
Dazu nutzen die neuen politischen Akteure (die alles sein können von Teenagern im Keller ihrer Eltern bis zu Geheimagenten) Techniken, die jugendliche Trolle schon lange kennen: Memes, die nur die eigene Gruppe versteht, Brigading, Silencing oder Doxxing. Eigentlich fehlt nur noch das erste politische Swatting, bei dem einem Gegner ein Spezialeinsatzkommando der Polizei auf den Hals gehetzt wird.
Willkommen in der neuen Demokratie.