Kapitalismus und seine Folgen:Das System ist überall

Menschen Kapitalismus

Der Kapitalismus ist überall - auch in unserem Privatleben.

(Foto: dpa)
  • Der Kapitalismus prägt nicht nur das Wirtschaften, sondern auch unseren Alltag, unser Miteinander, unser gesamtes Leben.
  • Seine Strukturen und Ordnungen wirken unmittelbar auf Familie, Beruf, Freizeit, Umwelt und Wohnen.

Von Hannah Beitzer, Alexander Hagelüken, Lea Hampel und Jan Willmroth

Immer doppelt: Das Miteinander von Kapitalismus und Familie ist brutal

Weniges versinnbildlicht so sehr den Dauerzustand der Familie in modernen Zeiten wie Eltern, die an Samstagnachmittagen in Sportkleidung durch öffentliche Parks hecheln und dabei einen Kinderwagen vor sich her schieben. Was hier nicht alles gleichzeitig erledigt wird: der Spaziergang mit Nachwuchs, der Bewegungsausgleich zum Büroalltag und das Zweiergespräch - kombiniert in einer Dreiviertelstunde.

Familie und Kapitalismus, sie gelten als zwei entgegengesetzte Kräfte, die eine als Zelle des Friedens, die andere als jene, die eine Gesellschaft auf Ausbeutung und Selbstoptimierung trimmt und den Inselfrieden stört. Und zunächst scheint es auch logisch: Während an der einen Stelle das Konkurrenzprinzip bestimmt, ist es an anderer Stelle die Uneigennützigkeit, zumindest im Idealfall. Der Homo oeconomicus ist auf den ersten Blick nicht eben ein Familienmensch.

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Aber so einfach ist es nicht. Denn der Fokus auf das Individuum, der den Kapitalismus prägt, hat auch dem Familienleben gutgetan: Was Familie ist, definiert sich offener als früher, seit dabei auch die Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigt werden und der Rahmen dafür - auch aufgrund des Kapitalismus - größer geworden ist; die Abhängigkeitsverhältnisse sind deutlich weniger geworden, seit auch Frauen außerhalb der Wohnung arbeiten. Die Zahl der deutschen Frauen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, steigt jährlich. Und umgekehrt ist die Familie für den Kapitalismus bedeutsam: Sie sorgt für Stabilität und gilt nicht umsonst noch als Ideal.

Dass also beides zusammengehen soll und muss, darüber herrscht oft Einigkeit. Das Bewusstsein für die Schwierigkeiten der Familie im Kapitalismus nimmt sogar zu: Fanden es laut dem "Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit" 2003 nur 46,5 Prozent der Unternehmen wichtig, familienfreundlich zu sein, waren es 2012 schon 80,7 Prozent. Auch daraus erklärt sich, dass die Bundesrepublik jährlich 100 Milliarden Euro ausgibt für Maßnahmen der Familienförderung. Trotzdem stagniert die Geburtenrate; 1,4 Kinder bekommt eine Frau derzeit im Schnitt.

Ein Grund ist: Noch ist das Miteinander von Kapitalismus und Familie trotz Krippenzuschüssen und Betreuungsgeldern brutal. Das Ideal der Selbstoptimierung aller Familienmitglieder verursacht Stress. Der fängt bei der Organisation von Fahrtwegen zum Musikunterricht an und endet bei Grundsatzfragen, die etwa lauten: Sind die Freundschaften der Kinder wichtiger oder der Karriereschritt des Vaters, für den ein Umzug nötig wäre? Das ist eine Doppelbelastung, mindestens. Und andererseits spricht zum Beispiel der Soziologe Dieter Thomä von einer "Doppelerfüllung". Welches von beidem passender ist, hängt am politischen Rahmen. Und davon, wie sehr wir ökonomische Kriterien an unser Privatleben anlegen.

Lea Hampel

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