SZ: Eine Einigung zwischen Griechenland und den Geberländern schien Ende der vergangenen Woche möglich. Und in dieser Situation ruft der griechische Premierminister ein Referendum aus. Hat Alexis Tsipras die Realität völlig aus dem Blick verloren?
Joseph Vogl: Was Realität ist, hängt doch vom Standort des Beobachters ab. Über griechische Realitäten ist hier in Deutschland recht wenig bekannt. Und zunächst würde man sich etwas mehr reale Auskünfte über das wünschen, was da tatsächlich passiert ist. Welche Kompromisse hat die griechische Regierung angeboten? Welche Vorschläge wurden von den Gläubigern nicht akzeptiert?
Das weiß man doch. Das Angebot sah 35 Milliarden Euro vor und eine Ausdehnung der Kreditlaufzeiten.
Für die Bewertung der Vorgänge, die zu der dramatischen Zuspitzung geführt haben, spielten aber wohl andere Faktoren eine entscheidende Rolle.
Welche sind das?
Mir scheint, dass ein grundsätzlicher Dissens in Fragen der Mehrwert- und Unternehmensteuern, der Rentenkürzungen und der Privatisierungen bestand. Und dass darin ein Eskalationspotenzial lag, hängt wahrscheinlich mit der Dynamik der Auseinandersetzung in den letzten Monaten zusammen. Denn einerseits haben da ja recht ungleich Partner miteinander verhandelt: das von Rettungspaketen abhängige Griechenland und die Vertreter der Gläubiger. Andererseits hat die griechische Regierung ihre gegenwärtige Rolle wohl überschätzt.
Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis von Politik und Ökonomie. 2011 veröffentlichte er das Buch Das Gespenst des Kapitals. Am 6. März 2015 erschien Der Souveränitätseffekt (diaphanes).
Ein völlig verschuldeter Staat hat sich überschätzt?
Es ist der griechischen Regierung jedenfalls bisher nicht gelungen, den Fall zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Diskussion über die wirtschaftliche und politische Ordnung des Euro-Raums zu machen. Mit dem Beharren auf Schuldentilgung und auf die minutiöse Umsetzung von Reformen haben die Euro-Partner klargemacht: eine Diskussion über die einmal zementierten Prinzipien des europäischen Wirtschafts- und Finanzsystems wird es mit uns nicht geben.
Entscheiden jetzt also die "Institutionen" IWF, EZB und Europäische Kommission darüber, ob ein Land Mitglied in der Europäischen Union sein kann? Hat sich der demokratische Souverän zurückgezogen und überlässt den Märkten das Feld?
Es gibt kein ominöses Monster namens Finanzmärkte. Und rein rechtlich gesehen entscheiden die Euro-Länder selbst über ihre Mitgliedschaft im Währungssystem. Allerdings hat man bestimmte Kompetenzen - wie die Geldpolitik - abgegeben und der demokratischen Kontrolle entzogen. Man folgte damit einer wirtschaftsliberalen Doktrin, die unter anderem im Maastricht-Vertrag Gesetzeskraft gewann. Das begründete die Machtposition der sogenannten 'Institutionen', die jetzt über souveräne Befugnisse verfügen und ihre Prioritäten - also die Bedienung von Gläubigerinteressen - diktieren.
Wer sind die Akteure in diesem Spiel?
Das gegenwärtige Finanzregime besteht aus einem weitläufigen Geflecht unterschiedlichster öffentlicher und privater Akteure. Dazu gehören Regierungen und Finanzministerien, Notenbanken, internationale Kreditgeber wie IWF und Weltbank und große Mitspieler auf den Kapitalmärkten, Investmentgesellschaften und natürlich Privatunternehmen mit quasi öffentlichem Auftrag wie die Ratingagenturen. Die bestimmen und strukturieren gemeinsam das Feld.