Bedeutung von Arbeit:Warum wir nie ausstempeln

Bloggerkonferenz re:publica

Arbeit oder Freizeit? Das lässt sich heute oft gar nicht mehr so genau bestimmen. (im Bild ein Teilnehmer der Bloggerkonferenz re:publica in Berlin)

(Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Arbeit macht Spaß - und Arbeit macht kaputt: Die heutige Berufswelt vereinnahmt den ganzen Menschen. Und wir machen das mit. Warum eigentlich?

Von Barbara Galaktionow

Die Stadt München hat sie noch. In den meisten Behörden, aber auch in Industrie-, oder Dienstleistungskonzernen ist sie ebenfalls üblich: die Stempeluhr. Doch was zu Zeiten der Industrialisierung als reines Kontrollinstrument diente, hat sich mittlerweile auch zu einem Instrument im Sinne der Arbeitnehmer entwickelt.

Erst die moderne elektronische Zeiterfassung ermöglicht Gleitzeit und hat in der immer flexibler werdenden Arbeitswelt zugleich eine Schutzfunktion, indem Arbeitszeiten dokumentiert werden. Trotzdem wird die Stempeluhr dem modernen Arbeit vielfach nicht mehr gerecht: Denn zumindest geistig stempeln viele Beschäftigte heutzutage sowieso nicht mehr aus.

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Der Abteilungsbericht, der noch durchgearbeitet werden muss, landet am Abend auf dem heimischen Küchentisch. Als Wochenend-Lektüre werden für den Job wichtige Texte gelesen - irgendwie interessieren die einen ja auch persönlich. Am Sonntagabend werden die Arbeits-Mails gelesen: Wer will schon unvorbereitet in die Woche starten? Die Kollegen sind schließlich auch immer informiert. Ach, und diese tolle Idee, die einem durch den Kopf schwirrt, wird von unterwegs schnell in die Firmen-Cloud gespeist. Bei der Gelegenheit kann man auch gleich gucken, was den Kollegen so eingefallen ist.

Arbeits- und Privatleben verschwimmen - wobei die Erwerbsarbeit meist den Takt vorgibt. "Entgrenzung" nennt das der Industrie- und Techniksoziologe Günter Voß von der Technischen Universität Chemnitz.

Auch Freizeit ist nur ein Teil der Arbeit

Ein Grund für diese Entwicklung, die seit den 1980er Jahren immer mehr zunimmt: "An vielen Stellen wird umgestellt von einer sehr detaillierten, direktiven Steuerung auf projektförmige Arbeit oder zumindest Arbeit, die viel mit Selbstorganisation zu tun hat", sagt Voß. Firmen geben immer weniger vor, wie und wann genau etwas zu passieren hat. Ja, manchmal nicht einmal, was eigentlich genau passieren soll - nur irgendwann muss da ein Ergebnis stehen, das überzeugt und am besten auch noch überrascht.

Das lässt Arbeitskräften viel Raum, etwas zu gestalten, setzt sie aber auch unter enormen Druck. "Letztlich führt es dazu, dass die Beschäftigten auch als Menschen völlig in die Erwerbsarbeit hineingezogen werden. Sie müssen alles von sich hergeben und all ihre Kompetenzen zur Verfügung stellen", beschreibt Voß die Auswirkungen.

Als letzte Konsequenz bekommt sogar die Freizeit arbeitsförmigen Charakter. Hobbys sind nicht mehr nur erbaulich, sondern Tätigkeiten, bei denen die Menschen ihre Fähigkeiten erweitern, die sie wiederum für die Arbeit nutzen können. Der Japanisch-Sprachkurs ist vielleicht auf lange Sicht beruflich nützlich. Hobbygärtner sind viel entspannter, vielleicht auch auf dem Chefsessel. Und wer immer hübsch an der Isar entlangläuft anstatt auf dem Sofa zu sitzen, ist womöglich nicht nur gesünder, sondern auch attraktiver - beides ist im Arbeitsleben hilfreich. Und selbst Kinder tröten nicht mehr sinnfrei auf ihrer Blockflöte, sondern - so die Hoffnung - erwerben damit allerlei Kompetenzen und neue Gehirnvernetzungen, die ihnen später nützlich sein könnten.

Erwerbsarbeit kommt also eine immer größere Bedeutung in unserem Leben zu, sie vereinnahmt immer mehr Ressourcen, bestimmt immer mehr, was uns ausmacht.

Warum eigentlich?

Ist es die Sorge um unser Auskommen, die uns treibt? Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen immer mehr arbeiten und die anderen sich auf Dauer mit dem Jobcenter arrangieren müssen, um ihren Hartz-IV-Anspruch nicht zu verlieren?

Das ist zumindest ein Motor für diese Entwicklung. "Immer mehr Menschen sind über prekäre Arbeitsverhältnisse in den Arbeitsmarkt integriert", stellt Klaus Dörre fest, der an der Uni Jena Kapitalismusforschung betreibt und flexible und prekäre Arbeitsverhältnisse untersucht (Zahlen dazu unter anderem auf der Seite der Hans-Boeckler-Stiftung). "Sie hangeln sich von Projekt zu Projekt, haben keine sichere Aufstiegsperspektive und müssen enorm viel Energie darauf verwenden, ihren Status auch nur zu erhalten."

Wo einen der neue Kapitalismus frösteln lässt

Doch es geht nicht nur um das sogenannte Prekariat. Die Entwicklung wirke sich auch auf diejenigen aus, die - noch - in gesicherten Positionen arbeiteten, sagt Dörre. Sie empfänden das mehr und mehr als ein Privileg und brächten eine enorme Bereitschaft zur Flexibilität mit. Auch Facharbeiter in der Industrie müssten heutzutage in unterschiedlichsten Positionen an wechselnden Orten arbeiten und ganz verschiedene Aufgaben erfüllen. Karrieren seien nicht mehr linear und schwer planbar.

Gleichzeitig grenze sich diese "arbeitnehmerische Mitte" deutlich nach unten ab, sagt der Soziologe. Durch die Ergebnisse einer Umfrage, die Dörre durchgeführt hat, weht der neue kalte Geist des Kapitalismus: Danach äußerten mehr als die Hälfte (52 Prozent), wohlgemerkt gewerkschaftlich organisierter Facharbeiter die Ansicht, dass eine Gesellschaft, die versuche jeden mitzunehmen, auf Dauer nicht überlebensfähig sei.

Relevant ist noch ein anderer Aspekt: Nach wie vor ist es vor allem die Erwerbsarbeit, die nicht nur ein Auskommen, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung schafft. Viele Langzeitarbeitslose würden sich bürgerschaftlich engagieren, sagt Dörre, von der Sterbehilfebegleitung bis zur Arbeit im Sportverein. Doch obwohl es sich dabei um gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit handele, könne dies die Erwerbsarbeit nie ersetzen. "Es bleibt immer der Makel, nicht in der Lage zu sein, die eigene Existenz zu sichern."

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