Streik in der Filmbranche:Wenn KI der Star ist

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Blitze über den Hollywood Hills mit dem berühmten Schriftzug. Doch es donnert nicht nur am Himmel, sondern auch in den Studios. (Foto: imago images/Cavan Images)

US-Autoren und Schauspieler streiken, auch wegen des Umgangs mit neuer Technologie. Derweil suchen Produzenten und Streamingportale Tech-Fachkräfte - was ist da los?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Javi ist außer sich - und das völlig zu Recht. Er sieht doch mit eigenen Augen, was ihm auf dem Bildschirm gezeigt wird: Paula, die Liebe seines Lebens, vergnügt sich mit einem anderen! Sie räkelt sich im Pool und lässt sich zärtlich betatschen, kurz davor hatte sie über ihn gelästert, heftig sogar. "Was soll das?", fragt Javi: "Ist das ein Experiment oder ein Pornofilm?" Nun, es ist die spanische Netflix-Dating-Reality-Show "Falso Amor". Der englische Titel "Deep Fake Love" ist ein besserer Hinweis darauf, was passiert: Paare lassen sich vermeintlich auf das Experiment ein, ob ihre Beziehung Versuchungen widerstehen kann. Was sie nicht wissen: Das, was Javi da sieht, also seine Liebste, die ihn betrügt, ist womöglich gar nicht geschehen. Es könnte ein sogenanntes Deepfake-Video sein, bei dem die Angebetete mithilfe künstlicher Intelligenz in Szenen hineingeschnitten wird, die so nie passiert sind. Das wahre Ziel der Sendung ist, herauszufinden, was echt ist - und natürlich die Qual der Kandidaten zu zeigen, die ja nicht wissen, worum es wirklich geht.

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz ist keine Zukunftsvision, sondern längst Gegenwart

Die Erkenntnis - außer jener, dass Reality-Dating-Shows in der Entertainmentbranche den innersten Kreis von Dantes Inferno darstellen und damit das Zentrum der Hölle: Der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) ist keine Zukunftsvision, sondern längst Gegenwart. Bereits 2018 gab es eine Werbung des Autobauers Lexus, die von KI kreiert wurde. Auch die jüngeren Versionen von Harrison Ford ("Indiana Jones"), Mark Hamill ("The Mandalorian") und Joe Pesci ("The Irishman") oder die Stimmen der verstorbenen Andy Warhol und Anthony Bourdain in den aktuellen Dokumentarfilmen "The Andy Warhol Diaries" und "Roadrunner: A Film About Anthony Bourdain" wurden mit KI erzeugt. Der Algorithmus für die personalisierten Empfehlungen bei Netflix: ebenfalls KI.

Film-Autoren protestieren vor dem Hauptquartier des Streaming-Anbieters Netflix in Los Angeles (Foto: Chris Chew/Imago/UPI)

Wundert sich noch irgendjemand, dass Netflix aktuell einen, wie es in der Ausschreibung heißt, "Produktmanager für eine Machine-Learning-Plattform" einstellen will und ein Jahresgehalt von bis zu 900 000 Dollar bietet? Oder einen "Technischen Direktor für KI-Forschung und Entwicklung" für 600 000 Dollar sucht, für einen "Machine-Learning-Wissenschaftler" 750 000 und einen "Machine-Learning-Programmierer" 700 000 Dollar zahlen will? Man findet derzeit knapp ein Dutzend Netflix-Stellenangebote mit KI-Bezug, während vor dem Studio in Los Angeles Schauspieler und Autoren streiken, auch und vor allem deshalb, weil sie fürchten, dass der unregulierte Einsatz von KI ihre Existenz gefährden könnte.

Netflix ist nicht die einzige Firma, die Leute im KI-Bereich einstellen will. Wer die Internet-Jobbörsen durchforstet, findet Stellenangebote der Hollywood-Platzhirsche Sony, Warner, Paramount, NBC Universal, CBS und Amazon Prime mit jeweils sechsstelligen Jahresgehältern.

Das ist freilich Wasser auf die Mühlen derer, die ein dystopisches Bild der Entertainment-Zukunft zeichnen. Rob Delaney etwa spielt in einer Folge der Netflix-Serie "Black Mirror", in der es um düsterste Zukunftsvisionen geht, eine Hauptrolle ausgerechnet in der Folge "Joan Is Awful", in der es durch den Einsatz von KI in der Entertainment-Branche zu tiefen Verwerfungen kommt. Delaney sagt: "900 000 Dollar für einen Soldaten in ihrer gottlosen KI-Armee. Es ist makaber, dass man für diese Summe 35 Schauspieler und ihre Familien in die Krankenversicherung der Gewerkschaft aufnehmen könnte. Ich war arm und reich in dieser Branche, und ich kann versichern: Es gibt genug Geld. Es geht um Prioritäten."

Das ist die eine Lesart des Streits in Hollywood: Produzenten - und das sind nicht nur Studios und Streamingportale (Multitalent Donald Glover sucht zum Beispiel für seine Firma Gilga Leute mit KI-Kenntnissen) - werfen mit Geld um sich mit dem Ziel, Kreative überflüssig zu machen; diese geben ihre mickrigen Gehaltsschecks dann im "Residuals" aus.

Die Residuals Tavern ist eine Kneipe auf dem Ventura Boulevard in Studio City, bekannt dafür, dass man dort für seine sogenannten Residuals-Schecks (Tantiemen für die Zweitverwertung) ein Bier kriegt - ganz egal, wie viel darauf vermerkt ist. Die Bar ist zum Symbol für den Streik in Hollywood geworden, weil Leute Fotos auf sozialen Medien veröffentlichen, wie sie mit ihren Drei-Cent-Schecks, die dort an einer Wand verewigt werden, ins Residuals gehen. Dort reden sie darüber, dass sie aufgrund des Streiks noch nicht einmal als Statisten arbeiten und dafür die im Tarifvertrag vorgeschriebenen 200 Dollar pro Drehtag kriegen können.

Was sie tun könnten: die 300 Dollar mitnehmen, die das Unternehmen Realeyes für zwei Stunden Arbeit bietet. Die Arbeit besteht darin, unterschiedliche Emotionen auszudrücken und kurze Szenen zu improvisieren, mit dem Ziel, "eine KI-Datenbank für menschliche Emotionen zu trainieren". Als Partner auf der Website vermerkt sind Firmen wie Coca-Cola oder Expedia, aber auch Warner und das Streamingportal Hulu.

Disney-Konzernchef Bob Iger sagt: "Nichts wird den technologischen Fortschritt aufhalten können."

Hulu gehört zum Disney-Konzern, und der gilt derzeit als Bösewicht. Bob Iger, beim letzten Tarifstreit 2008 noch als Vermittler gefeiert, wird als Inbegriff des kalten Konzernchefs gesehen. "Nichts wird den technologischen Fortschritt aufhalten können", sagte er kürzlich und nannte die Gewerkschaftsforderungen "unrealistisch". Kurz darauf legte er beim Gespräch mit Investoren anlässlich der Quartalszahlen nach: "Wir haben bereits damit begonnen, KI zu nutzen, um die Kunden besser zu versorgen. KI dürfte hochgradig zerstörerisch sein, aber auch extrem knifflig zu managen, vor allem im Bereich des geistigen Eigentums. Unsere Rechtsabteilung macht bereits Überstunden, um dieser Herausforderungen Herr zu werden."

Im Quartalszahlen-Bericht von Disney heißt es: "Die Regeln für technologische Entwicklungen, zum Beispiel in der generativen KI, sind weiterhin ungeklärt. Sie können sich auf Aspekte unseres bestehenden Geschäftsmodells auswirken, einschließlich den Einnahmequellen für die Nutzung unseres geistigen Eigentums und auf die Art und Weise, wie wir Produkte erstellen." Ach ja: Auch Disney gehört zu den Konzernen, die gerade Leute mit KI-Erfahrung suchen; einen Senior Vice President für Tech-Development zum Beispiel, Mindestgehalt: 270 000 Dollar im Jahr.

Wer weiß schon, was "Entertainment" in etwa 15 Jahren sein wird?

Vielleicht gibt es noch eine andere These zum Streit in Hollywood: Könnte es sein, dass es unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, was "Zukunft" sein wird? Dass sich Autoren und Schauspieler zu sehr um eine Zukunft sorgen, die bald schon Vergangenheit sein könnte? Also: von KI verfasste Drehbücher oder das Verwenden von Aufnahmen für andere Projekte. Dass die Produzenten als "Zukunft" etwas anderes interpretieren, nämlich eine Entertainmentbranche, in der KI selbstverständlich sein wird und damit Projekte möglich sein werden, die heute verrückt und unrealistisch klingen?

Genau das zeigen die Aussagen von Iger und die Disney-Quartalszahlen: Wer weiß schon, was "Entertainment" in etwa 15 Jahren sein wird? Wenn man zum Beispiel die Reality-Dating-Show "Deep Fake Love" mit dem Jobangebot von Realeyes verbindet, und das wiederum mit der Datensammelei von Social-Media-Plattformen und den Virtual-Reality-Projekten der Silicon-Valley-Konzerne Meta und Apple, könnte es dann passieren, dass Leute keine Serien und Filme mehr schauen, sondern ein Deepfake-Virtual-Reality-Erlebnis bestellen? Darin könnten sie diese wilde Party nach dem Schulabschluss noch einmal realistisch nachempfinden - als jüngere Versionen ihres aktuellen Selbst, so wie Harrison Ford im Indiana-Jones-Film? Selbst die Hauptfigur im Lieblingsfilm sein? Oder, ganz anders: So tun, als wäre man die Geliebte von Brad Pitt, so realitätsnah wie das "Deep Fake Love"-Video?

Der wahre Albtraum ist die düstere Vorstellung, jetzt Fehler beim Verhandeln zu machen

Es ist schwer abzusehen, was kommen wird; deshalb ist es auch unmöglich einzuschätzen, wie viel die Konzerne bereits in die Entwicklung von KI-Formaten investieren - zumal sie sich auf Anfrage dazu bedeckt halten. Die Jobangebote zeigen, dass KI-Experten in einem verästelten Konzern wie Disney in mehreren Bereichen tätig sein dürften.

Sicher ist nur: Es könnte Dinge geben, die man sich heute noch nicht einmal vorzustellen wagt, und darauf bereiten sich beide Seiten im derzeitigen Tarifstreit vor. Duncan Crabtree-Ireland ist der Verhandlungsführer auf Seiten der Schauspieler. Er sagt: "Anhand der Gehälter, die in diesen Stellenausschreibungen stehen, sieht es so aus, als wären das Jobs auf hoher strategischer Ebene. Das sehen wir in der Form zum ersten Mal im KI-Bereich, und es scheint so, als würden die Firmen damit nicht nur die Zeit direkt nach dem Ende des Streiks im Sinn haben, sondern ihren Blick auf die Zukunft richten und sich strategisch aufstellen."

Sich also vorbereiten auf die Zeit, in der der Einsatz von KI so selbstverständlich sein wird wie heute Surround-Sound oder Digitalkameras. Schauspieler und Drehbuchautoren verfolgen die Jobangebote und was sie bedeuten könnten, sehr genau. Der wahre Albtraum ist die düstere Vorstellung, jetzt Fehler beim Verhandeln zu machen und in der Zukunft aus allen Wolken zu fallen wie Javi beim Anblick seiner Liebsten in den Videos von "Deep Fake Love". So viel darf darüber verraten werden: Nicht alles, was Javi sieht, ist gefälscht.

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