Sanktionen:Warum das Hartz-IV-Urteil richtig ist

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Die vornehmste Rolle der Politik ist nicht die des barmherzigen Versorgers, sondern die des entschlossenen Möglichmachers. (Foto: picture alliance/dpa)

Die Bundesverfassungsrichter ziehen eine klare Linie: Sie entschärfen Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose, ohne sich auf ein bedingungsloses Grundeinkommen einzulassen.

Kommentar von Henrike Roßbach, Berlin

Wer einen Umsturz ersehnt hatte, den haben die Verfassungsrichter am Dienstag sicher maßlos enttäuscht. Ja, es ist verfassungswidrig, Langzeitarbeitslosen die staatliche Unterstützung ganz oder zu sehr großen Teilen zu streichen. Bis zu einer gewissen Grenze aber bleiben die umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen zulässig. Damit liegt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ziemlich genau in der Mitte zwischen den Extrempositionen. Die Richter geben weder denen recht, die eine sanktionsfreie Grundsicherung wollen, noch jenen, die drakonische Strafe für den einzig richtigen Anreiz halten.

Das weit verbreitete Unbehagen gegenüber drastischen Leistungskürzungen ist der Faden, aus dem die bald eineinhalb Jahrzehnte schwelende Hartz-IV-Debatte gewebt ist. Kaum etwas bringt die Gegner des Grundsicherungswesens so in Rage wie die mehr als 900 000 Sanktionen, die etwa im vergangenen Jahr verhängt wurden. Viele haben das Gefühl, es könne nicht recht sein, denen, die viel verloren haben, auch noch das Wenige zusammenzustreichen, was ihnen geblieben ist. Die Verfassungsrichter haben dem System nun einen Teil seiner Härte genommen. Im Grundsatz aber haben sie es bestätigt, das Fundament nicht ins Wanken gebracht. Ist das ein Skandal? Nein, mitnichten.

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Fördern und Fordern wird von den Karlsruher Richter nicht in Zweifel gezogen: Die Jobcenter können weiterhin Leistungen kürzen. Aber die Strenge hat Grenzen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wer in Deutschland Hilfe braucht, muss meist sehr viele Seiten Papier ausfüllen, Nachweise erbringen und seine persönliche Lebenssituation darlegen. Der Staat hat viele Fragen. Eine aber spielt keine Rolle: die Schuldfrage. Es ist egal, warum jemand in Not ist - die Solidargemeinschaft hilft so oder so. In der Grundsicherung wurde dafür jedoch eine Gegenleistung verankert. Wer seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann, muss mithelfen, aus dieser misslichen Lage wieder herauszukommen. Dass das nicht zu viel verlangt ist, haben nun auch die Verfassungsrichter klargestellt.

Wie dieses Mithelfen auszusehen hat, ist im Regelwerk der Jobcenter detailreich festgehalten. Langzeitarbeitslose müssen zu bestimmten Terminen erscheinen und bereit sein, sich weiterzubilden, einen Job oder eine Arbeitsmarktmaßnahme anzunehmen. Halten sie diese Regeln nicht ein, müssen sie mit weniger Geld auskommen.

Es ist gut, dass in Karlsruhe eine klare Linie gezogen wurde, die der Staat nicht mehr überschreiten darf. Die Grenzziehung der Richter stellt klar, dass niemand, der "Fördern und Fordern" sagt, Überfordern mitmeinen darf. Hinzu kommt, dass die Sinnhaftigkeit besonders rigider Leistungskürzungen ohnehin bezweifelt werden darf. Irgendwann nämlich sind sie nicht mehr Anreiz, möglichst schnell wieder auf eigenen Füßen zu stehen, sondern vielmehr die Wegmarke, an der Betroffene sich endgültig abwenden und unerreichbar werden für jene, die ihnen helfen können und wollen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist letztlich eine Bankrotterklärung

Genauso gut aber ist es, dass die Verfassungsrichter nicht den Weg gewiesen haben in eine bedingungslose Grundsicherung - und damit in ein bedingungsloses Grundeinkommen. So viele enthusiastische Befürworter diese Idee auch hat: Sie ist nicht nur enorm teuer und verlangt denen, die sie finanzieren sollen, ein fragwürdiges Maß an Solidarität ab, sondern sie ist letztlich auch eine Bankrotterklärung.

Denn in unserer Gesellschaft hat Arbeit einen hohen Stellenwert. Arbeit bedeutet, es für sich und seine Familie selbst zu schaffen, Neues lernen zu können, Menschen um sich haben. Wer Arbeit hat, der hat etwas, über das er sich am Abendbrottisch herrlich empören und genauso herrliche Heldengeschichten erzählen kann. Manche mögen es grundfalsch finden, der schnöden Arbeit derart viel Raum zu überlassen in einer Gesellschaft. Die meisten Menschen aber sehen das anders. Die vornehmste Rolle der Politik ist deshalb nicht die des barmherzigen Versorgers, sondern die des entschlossenen Möglichmachers. Der enorme Rückgang der Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren zeigt, dass dies mit den Hartz-Reformen - wenn auch nicht alleine mit ihnen - durchaus in Teilen gelungen ist.

Natürlich ist trotzdem nicht alles gut. Kinder etwa haben im Hartz-IV-System nichts verloren. Jobcenter-Mitarbeiter müssen nach wie vor zu viel Arbeitszeit mit Papierkram verbringen. Arbeitslose sollten leichter als heute eine komplette Ausbildung machen dürfen, auch wenn das länger dauert als die Vermittlung in irgendeinen Job. Für Alleinerziehende müssten Teilzeitausbildungen flächendeckend möglich sein. Denkbar wäre auch ein großzügigerer Umgang mit den Ersparnissen derjenigen, die lange gearbeitet haben und erst spät im Leben arbeitslos werden.

Das Urteil der Verfassungsrichter kann nicht alles richten, was in mehr als 14 Jahren Hartz IV schief zusammengewachsen ist. Der Richterspruch aber birgt die Chance, einen eskalierten Konflikt zu befrieden und grundlegende Missstände zu heilen. Sollte die Regierung sich als unfähig erweisen, diese Gelegenheit zu ergreifen, wäre das grob fahrlässig.

© SZ vom 06.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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