Es ist 11.55 Uhr, als in Emsbüren der Startschuss zu einer neuen Etappe der deutschen Energiewende fällt. Wobei es eigentlich kein Schuss ist, sondern mehr ein Aufjaulen. Denn mit diesem Geräusch beginnt der sogenannte mobile Verdichter seine wichtige Arbeit: Diese riesige, auf einem Sattelschlepper montierte Pumpe saugt Gas aus dem Abschnitt einer Erdgas-Pipeline heraus und leitet es in eine Pipeline, die in der Nähe verläuft. Durch die geleerte Röhre will der Betreiber Open Grid Europe (OGE) schon in zwei Jahren klimafreundlich erzeugten Wasserstoff transportieren - anstelle des klimaschädlichen Erdgases.
Es ist eine Premiere: Erstmals wird in Deutschland eine Gas-Fernleitung, also eine dicke Pipeline, auf den grünen Energieträger Wasserstoff umgestellt. OGE, der größte Fernnetzbetreiber des Landes, lud daher am Montag zu einer kleinen Zeremonie nach Emsbüren, einer Gemeinde im südlichen Niedersachsen. Inmitten von Feldern steht dort eine Verdichterstation des Essener Konzerns, eine Anlage, die dem Erdgas aus Norwegen in der Pipeline neuen Schwung auf den Weg nach Süden verleiht. Und seit Montag arbeitet dort eben auch die mobile Pumpe, die eine der unterirdischen Röhren vom Klimakiller Erdgas befreit.
OGE-Vorstandsmitglied Thomas Hüwener sagt, es sei viel und lange geredet worden über ein deutschlandweites Wasserstoff-Netz: "Nun ist der Startschuss dafür gefallen." Nach dem Abpumpen des Erdgases müssen aber erst noch Teile der Leitungstechnik umgerüstet werden. Und es geht zunächst nur um 46 Pipeline-Kilometer. Es ist deshalb bloß ein kleiner Anfang, denn die deutschen Fernnetzbetreiber schätzen, bis 2032 ein Kernnetz mit bis zu 11 200 Kilometern an dicken Wasserstoff-Pipelines knüpfen zu müssen. 60 Prozent sollen aus umgewidmeten Erdgas-Röhren bestehen, heißt es in der Branche, den Rest müssen OGE und seine Mitbewerber neu bauen. Kostenpunkt insgesamt: 20 Milliarden Euro.
Das ist viel Geld, doch ohne grünen - also klimafreundlich erzeugten - Wasserstoff wird der Umbau der Wirtschaft nicht gelingen. Klimafreundlich ist der Energieträger dann, wenn er mithilfe von Ökostrom in sogenannten Elektrolyseuren erzeugt wird. In den Anlagen spaltet Elektrizität das Wasser in dessen Bestandteile Wasser- und Sauerstoff auf. Das grüne Wunder-Molekül soll dann Erdgas, Kohle und Öl in Kraftwerken oder Schiffsantrieben, in Chemiefabriken oder Stahlhütten ersetzen.
Auch die Gasspeicher werden umgestellt
Die Röhre in Emsbüren ist Teil eines umfassenderen Wasserstoffprojekts namens " Get H2 Nukleus". Ein Partner ist RWE. Der Energiekonzern will in Lingen, etwas nördlich der Verdichterstation, in Elektrolyseuren grünen Wasserstoff herstellen, mithilfe von Windstrom. Die erste Anlage soll bis Jahresende in Betrieb gehen - und ihre Produktion künftig in OGEs Röhre einspeisen. Südlich von Emsbüren führt die Pipeline praktischerweise an den großen Gasspeichern in Gronau an der niederländischen Grenze vorbei. Dort lagert bisher Erdgas in Salzkavernen. Diese Speicher müssen in Zukunft ebenfalls auf Wasserstoff umgestellt werden. RWE baut hier bereits einen Speicher für den Energieträger.
Der Weg der Röhre führt ins Ruhrgebiet, sie soll unter anderem den Chemiepark in Marl oder Thyssenkrupps Stahlwerk in Duisburg versorgen. In Europas größtem Stahlwerk wird schon eine sogenannte Direktreduktionsanlage gebaut, als Ersatz für einen Hochofen. Die Anlage soll von 2029 an Roheisen nicht mit Koks und Kohle, sondern mit grünem Wasserstoff produzieren. Klar ist auch, dass Deutschland einen Großteil des Wasserstoffs wird importieren müssen, aus Ländern, in denen der Ökostrom für die Elektrolyseure billiger und üppiger vorhanden ist. Daher soll die Emsbüren-Röhre verbunden werden mit Hafen-Terminals oder Übersee-Pipelines an der deutschen und niederländischen Nordsee-Küste.
Doch bevor Netzbetreiber wie OGE im großen Stil investieren können, müssen sie wissen, wie die Vergütung aussieht. "Wir sind bereits erheblich in Vorleistung getreten, laufen aber bei diesem Thema noch an einen Poller", klagt Vorstandsmitglied Hüwener. Die Konzerne erhalten für ihre Dienste Netzentgelte von den Nutzern. Allerdings wird es in den ersten Jahren bloß sehr wenige Nutzer geben für das teure Wasserstoff-Netz. Würden die Kosten nur auf diese kleine Gruppe umgelegt, wären die Entgelte viel zu hoch. Deswegen will die Bundesregierung die Entgelte am Anfang deckeln. Die Verluste aus dieser Startzeit sollen die Betreiber später wieder hereinholen, wenn der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft gelungen ist. Der Staat wiederum soll mit Steuerzahlergeld dafür bürgen, dass diese Rechnung aufgeht und die Unternehmen tatsächlich angemessen am Knüpfen des Netzes verdienen.
Die Betreiber fordern Hilfe vom Staat
Zugleich ist klar, dass der Staat nicht sämtliche Verluste tragen würde, sondern ein gewisses Risiko bei den Betreibern verbleibt. Netzbetreiber und Regierung diskutieren nun immer noch darüber, wer welchen Anteil möglicher Verluste abdecken soll. "Wir arbeiten mit der Bundesregierung sehr intensiv und sind schon weit vorangekommen", sagt Hüwener.
Energie-Ökonom Manuel Frondel vom Essener Forschungsinstitut RWI geht das aber nicht rasch genug. "Der Aufbau des Netzes ist ganz zentral für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft", sagte er der SZ. "Hier müssen nun sehr schnell die Investitionen starten, und dafür brauchen die Betreiber Klarheit von der Politik." Immerhin: Das vorgesehene Konzept, die Netzentgelte anfangs zu deckeln und mögliche Verluste für die Konzerne zu begrenzen, hält Frondel für "ziemlich gut".
Doch nicht nur die Finanzierung muss stimmen für den Umstieg auf Wasserstoff: Firmen wie OGE müssen auch Personal umschulen. Vor zwei Monaten fand daher in Werne am Nordrand des Ruhrgebiets der Spatentisch statt für den Bau eines OGE-Trainingszentrums. Dort sollen Mitarbeiter aus ganz Europa an echten Rohren und Anlagen lernen, wie die Pipelines mit dem Wundergas betrieben und gewartet werden. Kommenden Herbst soll das Training starten - also pünktlich für den Beginn der Wasserstoff-Durchleitung im Jahr 2025.