Börse:Der Dax verliert ein weiteres Original

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Ein Kran transportiert in der Feuerbeschichtungsanlage von ThyssenKrupp in Dortmund einen sogenannten Coil. (Foto: dpa)
  • Am kommenden Mittwoch entscheidet sich, wer in diesem Jahr aus dem Dax fliegt und wer nachrücken darf.
  • Schon jetzt ist so gut wie sicher, dass Thyssenkrupp in den M-Dax absteigt. Welcher Konzern aufsteigt, ist hingegen noch offen.
  • Am Ende wird entweder MTU Aero Engines oder Deutsche Wohnen das Rennen machen - doch noch kann alles passieren.

Von Harald Freiberger und Benedikt Müller, Düsseldorf

Guido Kerkhoff ahnt schon, was ihm nächste Woche blüht. "Die Zugehörigkeit zu einem Index", sagte der Thyssenkrupp-Chef kürzlich, "ist deutlich nachrangig zu dem, was wir als Aufgabe vor uns haben." Das soll wohl heißen: Einer der größten und bekanntesten Industriekonzerne Deutschlands hat derzeit größere Probleme, als wahrscheinlich aus dem führenden Aktienindex Dax abzusteigen. Eine Prestigefrage bleibt es trotzdem.

Einmal im Jahr überprüft die Deutsche Börse, welche Firmen die Kriterien für eine Mitgliedschaft im Dax erfüllen - und welche nicht mehr. Schließlich soll der Leitindex stets die 30 größten börsennotierten Unternehmen hierzulande umfassen. Am kommenden Mittwoch ist es wieder soweit: Da will die Börse nach Handelsschluss bekannt geben, wer absteigen muss und wer nachrücken wird.

Der Dax ist ein Spiegel der deutschen Wirtschaft. Die bevorstehende Veränderung ist auch symptomatisch für den Wandel in den vergangenen Jahrzehnten: Alte, traditionsreiche Industrieunternehmen sind aus dem Index herausgefallen und haben Firmen mit neuen Namen aus modernen Branchen wie Technologie und Immobilienwirtschaft Platz gemacht.

Für den Index-Experten Uwe Streich von der Landesbank Baden-Württemberg steht fest: "Dass Thyssenkrupp vom Dax in den M-Dax absteigen wird, ist beschlossene Sache." Nur welcher Konzern dafür in die erste deutsche Börsenliga aufsteigen wird, sei "selbst kurz vor Torschluss noch nicht hundertprozentig klar". Favoriten sind der Triebwerkshersteller MTU Aero Engines aus München und der Großvermieter Deutsche Wohnen aus Berlin.

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Die Kriterien

Entscheidend für die Mitgliedschaft im Dax sind zwei Kriterien: Für wie viel Geld haben Investoren in den vergangenen zwölf Monaten Anteilsscheine der einzelnen Firma gekauft (Börsenumsatz)? Und wie wertvoll war das Unternehmen im Schnitt der vergangenen vier Wochen an der Börse (Marktkapitalisierung)? Stichtag ist der 30. August, also dieser Freitag. Dabei zählen nur Aktien, die Anleger frei handeln können. Wirksam wird die Entscheidung am 23. September, drei Wochen nach der Bekanntgabe.

Der Absteiger

Thyssenkrupps großes Problem ist der Börsenwert: Der Aktienkurs ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast die Hälfte eingebrochen. Der Ruhrkonzern ist in seiner heutigen Form vor 20 Jahren entstanden, als Thyssen und Krupp fusionierten. Thyssen war damit ununterbrochen Dax-Mitglied, seit dessen Einführung 1988.

Der Niedergang an der Börse hat mehrere Ursachen, nicht alle sind selbst verschuldet: Dass weltweit in diesem Jahr weniger Autos hergestellt werden, etwa wegen der Handelskonflikte, trifft Thyssenkrupp als einen der größten Zulieferer hierzulande. Die Essener stellen Bleche, Federn oder Lenksysteme für Autos her. Seit Jahren schon kämpfen zudem die Stahlwerke mit weltweiten Überkapazitäten; zuletzt stiegen die Stahlzölle in den USA und die Kosten für CO₂-Emissionsrechte sowie der Preis des wichtigen Rohstoffs Eisenerz.

Doch sind auch die Befreiungsschläge, die Thyssenkrupp zuletzt versuchte, krachend gescheitert: Erst wollte der Konzern seine Stahlwerke in ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Konkurrenten Tata Steel Europe einbringen; doch die EU verbot die Fusion aus Sorge um den Wettbewerb. Dann wollte Vorstandschef Kerkhoff Thyssenkrupp in zwei eigenständige Firmen aufteilen: einen Stahlhersteller und -händler sowie einen Technologiekonzern, der Aufzüge, Autoteile und Anlagen vereint. Auch der Plan scheiterte, weil die Essener zunächst Hunderte Millionen Euro hätten zahlen müssen, vor allem Steuern.

Wegen hoher Schulden können sie sich das kaum leisten. Thyssenkrupp hatte vor einem Jahrzehnt mehrere Milliarden Euro für neue Stahlwerke in Brasilien ausgegeben, die aber zu keiner Zeit die Erwartungen erfüllten. In den Folgejahren erwirtschaftete der Konzern kaum Gewinne; allein in dem einen Jahr unter Vorstandschef Kerkhoff musste Thyssenkrupp die Prognose viermal nach unten korrigieren. Die Lage ist so ernst, dass Thyssenkrupp das wertvollste Geschäft mit Aufzügen und Rolltreppen zum Teil an die Börse bringen oder gar an Investoren verkaufen will.

Gleichzeitig hat Kerkhoff angekündigt, dass er jene Geschäfte "auf den Prüfstand" stelle, die "ohne klare Perspektive dauerhaft Geld verbrennen und damit Wert vernichten, den andere Bereiche erwirtschaftet haben." Doch selbst mit dieser klaren Kante kann Kerkhoff den Abstieg in die Börsen-Zweitklassigkeit offensichtlich nicht mehr verhindern.

Die Aspiranten

Wer rückt nach, wenn Thyssenkrupp den Dax verlässt? Mit MTU Aero Engines und Deutsche Wohnen erfüllen zwei Unternehmen die Bedingungen. In einer solchen Patt-Situation würde der Börsenwert zum "Zünglein an der Waage", erklärt Streich. "Und in diesem Kriterium hat die klar besser platzierte MTU die Nase vorn." Es kann aber auch noch anders kommen.

MTU stellt Triebwerke für Flugzeughersteller wie Boeing und Airbus her und profitiert vom Luftfahrt-Boom. Deutsche Wohnen ist an der Börse über Jahre aufgestiegen. Sie besitzt rund 165 000 Mietwohnungen. Allerdings wird der politische Druck immer größer. Bei der Berliner Firma stehen kaum noch Wohnungen leer; sie kann die Mieten vielerorts erhöhen. Ihre Immobilien gewinnen seit Jahren kräftig an Wert, auch weil viele Anleger in Zeiten niedriger Zinsen in Wohnungen investieren.

Mit einem Mietendeckel allerdings, wie ihn das Land Berlin nun plant, würden manche Einnahmen der Deutsche Wohnen in ihrem Heimatmarkt Berlin wegbrechen. Seitdem der dortige Senat im Juni die Preisdeckelung beschloss, hat das Unternehmen an der Börse etwa 30 Prozent an Wert verloren. Dieser Absturz könnte die Deutsche Wohnen nun die Mitgliedschaft im Dax kosten.

Die Anleger

Ein Unternehmen, das in den Dax aufsteigt, wird von der Öffentlichkeit stärker beachtet. Tendenziell steigt auch der Aktienkurs, vor allem wegen der zunehmend gefragten Indexfonds (ETF), die den Dax eins zu eins nachbilden. Die Anbieter von Dax-ETF werden in der nächsten Woche Werte des Absteigers verkaufen und jene des Aufsteigers kaufen. Anleger müssen sich deshalb auf stärkere Kursschwankungen um den entscheidenden Tag herum einstellen. Übrigens wird nicht nur der Dax umgestellt. Aus dem M-Dax für mittelgroße Werte fiel bereits am Donnerstag der Medienverlag Axel Springer heraus. Für ihn rückt der IT-Dienstleister Cancom auf. Dessen freien Platz im S-Dax nimmt der Immobilienentwickler Instone Real Estate ein. Auch hier gilt: Traditionsunternehmen weichen den neuen Branchen.

© SZ vom 30.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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