Krankenhäuser:Ein neues Punktesystem soll den Pflegenotstand lindern

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Wenn Abmachungen nicht eingehalten werden, bekommen Pflegekräfte in einigen Berliner Krankenhäusern nun Punkte, aber nicht unbedingt mehr Geld. (Foto: Charité / W. Peitz)

Verdi hat in Berlin Tarifverträge erstritten, die Pflegekräfte entlasten sollen. Jetzt wirbt die Charité damit - und hofft im harten Wettbewerb um Mitarbeiter auf einen Vorteil.

Von Roland Preuß, Berlin

Viele Fachleute und Politiker reden darüber, David Wetzel arbeitet mittendrin: im Pflegenotstand. Wetzel ist Pfleger an der Berliner Charité, im Alltag hat er elf Krebspatienten gleichzeitig zu betreuen. Er muss da etwa Verbände wechseln, was bei den Menschen auf seiner Station sehr sorgfältig ablaufen muss: Die Wunden könnten sich entzünden, die Patienten sind geschwächt. Wetzel muss sich konzentrieren. Einerseits. Seine elf Patienten aber haben andererseits alle eine Klingel, mit der sie sich melden können, wenn sie etwas brauchen. Das kann eine banale Frage, das kann aber auch ein Notfall sein. "Man wird ständig unterbrochen", sagt Wetzel. Dann muss er schnell entscheiden: Gehe ich rüber und sehe nach? Mach ich den Verband erstmal fertig? "Das ist ein Ding der Unmöglichkeit - und später fragt man sich, ob man alles gemacht hat, was nötig war, ob man etwas vergessen hat."

Und dann die Anfragen. Wo zu wenige Menschen arbeiten, da gibt es keinen Puffer, wenn Leute ausfallen. "Dann rufen die Kolleginnen und Kollegen an: Kannst Du hier noch einen Dienst machen - oder da?" Am Abend, am Wochenende. Es gebe Kollegen, die deshalb den Beruf aufgegeben hätten, sagt Wetzel.

David Wetzel, 35, Pfleger an der Berliner Charité. (Foto: privat)

Es gibt zu wenige Pflegekräfte in Deutschland. Und Corona hat das Problem eher noch verschärft. Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts vom Herbst unter 233 Kliniken arbeiteten dort weniger Intensivpflegekräfte als noch Ende 2020. Viele hätten gekündigt, in der Klinik die Stelle gewechselt oder die Arbeitszeit verringert. Offenbar reicht es vielen Beschäftigten nach zwei Jahren Corona-Dauereinsatz und dem großen Sterben in den Kliniken.

Verdi-Chef Werneke sieht in dem neuen Abschluss ein "tarifpolitisches Highlight"

Was tun? Jahrelang hatte sich in der Branche der Druck zum Sparen aufgebaut, ehe die Politik gegensteuerte. Mit Zuschüssen will die Bundesregierung den Beruf attraktiver machen. Die Gewerkschaft Verdi dagegen setzt auf schnelle, gezielte Entlastung. Seit Anfang des Jahres gelten für die Charité und den Berliner Klinikbetreiber Vivantes spezielle Tarifverträge. Sie sollen nun das leisten, was politische Vorgaben und bisherige Vereinbarungen nicht geschafft haben: Pflegearbeit attraktiver machen. Es ist ein Wettbewerb nach oben. Solche Haustarifverträge sollen bald auch in weiteren Kliniken durchgesetzt werden, in Köln, Düsseldorf, Aachen und weiteren Städten. Verdi-Chef Frank Werneke sprach kürzlich von einem "tarifpolitischen Highlight", durch das letztlich 2000 zusätzliche Stellen entstehen müssten.

Die Charité und Vivantes werben derzeit mit ihrem Haustarifvertrag. "Entlastung in Pflegeberufen? Das ist bei uns Chep-Sache", heißt es auf den digitalen Plakaten der Charité. Der Slogan bezieht sich auf das Punktesystem "Chep", das die Beschäftigten gezielt entlasten soll. Und zwar nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch andere Fachberufler, etwa Hebammen. Es gelten nun Personalschlüssel und Regeln, wie etwa der Operationssaal besetzt sein muss. Werden die Vorgaben nicht eingehalten, gibt es diese Cheps-Punkte, die für Freizeit, Zuschüsse für die Kinderbetreuung, Altersteilzeit oder Sabbaticals genutzt werden können. Auch wenn Beschäftigte damit umgehen müssen, dass Patienten ausrasten und um sich schlagen, gibt es Punkte. Generell mehr Geld ist nicht vorgesehen.

Das sei aber für viele Beschäftigte nicht das Entscheidende, sagt Dana Lützkendorf, Vorsitzende des Gesamtpersonalrats der Charité und Mitglied der Verdi-Tarifkommission. "Am wichtigsten ist, dass wir weniger Patienten betreuen müssen, also mehr Personal." Das "tägliche Gehetztsein" müsse endlich ein Ende haben, das "schlechte Gewissen durch das, was man weglässt". Noch immer gebe es einen chronischen Personalmangel an der Charité, sagt Lützkendorf. "Dieser Tarifvertrag aber ist attraktiv. Ich hoffe, dass er viele Kolleginnen und Kollegen zu uns holt - und dass mehr bleiben."

Da ist sie sich einig mit Carla Eysel, Vorstand für Personal und Pflege der Charité. "Wir brauchen natürlich mehr Pflegekräfte", sagt sie. Um den Haustarifvertrag einzuhalten, müsse die Charité nun etwa 700 zusätzliche Kräfte in Vollzeit einstellen. Die Frage ist: Kommen die auch? Denn Pflegekräfte sind überall heiß begehrt. Eben hier soll nun der Wettbewerb nach oben greifen, soll der Tarifvertrag Menschen für die Charité gewinnen. Und je mehr Pflegekräfte anheuern, desto besser werden die Arbeitsbedingungen.

"Es geht darum, einen sich selbst verstärkenden Effekt zu erreichen. Mit Arbeitszeiten, die ins Leben passen, verlässlichen Dienstplänen und Urlaubsplanung. All die bisherigen Unsicherheiten machen die Menschen unzufrieden", sagt Eysel.

Carla Eysel ist Vorstand für Personal und Pflege der Charité. (Foto: privat)

Was nach der großen Einigkeit klingt zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft, wurde hart erkämpft. Vier Wochen streikten Lützkendorf und ihrer Kollegen vergangenen Herbst, dann stand der neue Haustarif. Es habe da viel höhere Vorstellungen der Gewerkschaft bei den Neueinstellungen gegeben, sagt Eysel. Deshalb die lange Auseinandersetzung. Nun aber werben beide Seiten damit.

Bezahlen für das neue Punktesystem müssen die Krankenkassen, nicht die Charité

Dieses Vorgehen sei "pure Notwehr der Beschäftigten", sagt Sylvia Bühler, Vorstandsmitglied bei Verdi. Bundesweit hat Verdi bereits 17 Vereinbarungen zur Entlastung geschlossen - zuletzt bei Vivantes und der Charité. Einige frühere Regelungen jedoch hätten nicht die erhoffte Wirkung gebracht, etwa an den beiden Uni-Kliniken in Düsseldorf und Essen, sagt Bühler. "Deshalb haben wir diese gekündigt, und die Beschäftigten der sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen gehen jetzt geschlossen in die Auseinandersetzung." Blaupause für die Tarifverträge dort: der Abschluss in Berlin.

Cheps-Punkte und mehr Leute auf den Stationen kosten Geld, allerdings nicht die Charité. Die Traditions-Uniklinik macht sich zunutze, dass die Krankenkassen seit ein paar Jahren jede zusätzliche Pflegestelle grundsätzlich voll bezahlen müssen. Geld ist also da, man muss nur die Leute finden.

Die Charité hat da einen Wettbewerbsvorteil: Viele junge Leute wollen in die Hauptstadt, die Charité ist eine Marke, durch die gleichnamige ARD-Serie sogar ein Mythos: An der Charité forschten weltberühmte Wissenschaftler. Eine Forscherin blieb trotz verlockenden Angebots aus dem Westen lieber auf ihrer ostdeutschen Charité-Stelle. Die Berliner haben gute Chancen, anderen die Pflegekräfte abzuwerben. "Wir haben mit dem Tarifvertrag bei anderen Unikliniken nicht nur Freude ausgelöst", sagt Personal-Vorstand Eysel.

Und bei anderen Gewerkschaften schimpft man über das Vorgehen von Verdi. "Das ist eine radikale Art der Mitgliederwerbung", sagt Sascha Faber, führendes Mitglied bei der Gewerkschaft VDLA an der Uniklinik Aachen, die beim Beamtenbund organisiert ist. Verdi-Chef Werneke freut sich, man habe durch die Tarifabschlüsse 2500 neue Mitglieder gewonnen. Ist das ruppig - oder der verdiente Lohn für ein gutes Modell?

Für den Pfleger David Wetzel jedenfalls sind die neuen Regeln schon spürbar. Er müsse jetzt tagsüber nur noch sieben Patienten betreuen, sagt er. "Mit dem Tarifvertrag bekommen wir wieder Zeit zurück, die wir brauchen."

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