Wenn einer Frau nach vielen Ehejahren zu ihrem Mann nur mehr Wörter wie "Mistkerl" über die Lippen kommen, dann mag es ihr einfallen, ihn bloß verächtlich per Nachnamen zu titulieren.
Umgekehrt scheint es sich bei dem englischen Historiker Gareth Stedman Jones zu verhalten, der nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit seinem Idol enttäuscht ist. Seine monumentale Marx-Biografie gräbt an den Fundamenten des Denkmals. Respektlos redet er konsequent von "Karl". Marx hat einfach zu viel Blödsinn verzapft, um seinem Nachnamen gerecht zu werden.
Bitterkeit zeugt von wahrer Liebe: Das macht Stedman Jones' Buch zu einer köstlich-lehrreichen Lektüre (Karl Marx, übersetzt von Thomas Atzert, Andreas Wirthensohn, S. Fischer Verlag). Dass Marx immerzu krank und pleite war, dass dieser an sich friedfertige und liebenswürdige Mann ein anmaßender, selbstmitleidiger, rachsüchtiger Widerling sein konnte, hat sich herumgesprochen. Aber das gilt für viele Große.
1844 kam Marx auf den Gedanken der Revolution
Stedman Jones erklärt ihn aus seinem zeitgenössischen intellektuellen Umfeld heraus und stellt fest, dass Marx einige Entwicklungen seiner Zeit nicht wahrgenommen habe, weil sie nicht zu seinen Theorien passten.
Zur Jugendzeit des 1818 Geborenen war sein Geburtsort Trier ein Armenhaus. Jeder vierte Einwohner der zu Preußen gehörenden Stadt war von Almosen und öffentlicher Fürsorge abhängig. In Preußens Hauptstadt Berlin arbeitete - die Polizei dürfte sie gezählt haben - in den 1830er-Jahren jede siebzehnte Frau als Prostituierte.
Das waren Umstände, die - von Hause besser gestellte - Studenten theoretisch einfangen wollten. Marx befasste sich intensiv mit Hegel und dem deutschen Idealismus sowie mit dem als gottlos verpönten Materialismus (der hatte angeblich zur Französischen Revolution und La Terreur geführt).
Marx' Ziel sei es gewesen, den Idealismus mit dem Materialismus zu versöhnen: nicht zu seinem Frommen, wie Stedman Jones meint, dessen brillante Argumentation hier nur angerissen werden kann.
Fälschlich werde dem Idealismus nachgesagt, weltfremd zu sein. Hegel hatte versucht, die Idee der Familie mit der Verfassung des (kurz nach Napoleons Untergang noch fortschrittlichen) preußischen Staates gedanklich zusammenzubringen. Daraus ergab sich seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft.
Aus Sicht der späteren Linkshegelianer (als Preußen repressiv regiert wurde) war Hegel aber nicht weit genug gegangen: Sie fanden, bei Hegel träfen sich Staat und Individuum in der Wertschätzung des Privateigentums, politische Mitbestimmung komme nicht zur Geltung. Der ansprüchliche Marx wollte freilich mehr; Mitbestimmung wäre bloß auf eine Korrektur hinausgelaufen.
Nein, Marx wollte Hegel komplett überwinden; 1844 kam er auf den Gedanken der Revolution. Er bramarbasierte von einem Gemeinwesen, in dem die Unterscheidung zwischen rationalem Staat und bürgerlicher Gesellschaft verschwinde. Das, so Stedman Jones, führte zu hanebüchenen Fehlurteilen.
Die repräsentative Demokratie hielt Marx für Mumpitz und das in diversen Staaten konzedierte Männer-Wahlrecht für eine Farce. Er hatte das Proletariat zur ausführenden Gewalt der revolutionären Entwicklung ausersehen, wobei es ihn nicht kümmerte, was die Arbeiter sich wünschten: "Karl gestattete seinen Arbeitern keine Individualität", schreibt Stedman Jones. Zwar war Marx immer ganz stolz, wenn er mal Arbeitern bei der Arbeit zuschauen konnte.
Gleichwohl waren sie aus seiner Sicht nur Vertreter eines "Gattungswesens", dessen historische Aufgabe es war, das Privateigentum zu überwinden. Als 1848 Pariser Arbeiter auf die Barrikaden gingen, notierte Marx: "Weltkrieg - das ist die Inhaltsanzeige des Jahres 1849."
Später optierte er für eine friedliche Revolution. Dass es vielen Arbeitern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser ging, weil die Regierenden in Frankreich und den deutschen Landen weitere Revolutionsversuche vermeiden wollten, nahm er nicht zur Kenntnis.