Ein Bild und seine Geschichte:Wie Adelige und Revolutionäre Frieden schlossen

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Deutsche Diplomaten und Offiziere empfangen die russische Delegation am Bahnhof in Brest-Litowsk: in der Mitte im Profil Leo Trotzki, links daneben Lew Kamenew und Adolf Joffe. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Am 3. März 1918 endet der Erste Weltkrieg an der Ostfront offiziell. Zuvor verhandeln in Brest-Litowsk zwei skurril unterschiedliche Delegationen.

Von Barbara Galaktionow/mit Bildern von SZ Photo

"Der Friede mit Russland unterzeichnet", prangt es den Lesern am Montag, dem 4. März 1918, von der Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten entgegen. Am Tag zuvor haben das Deutsche Kaiserreich und seinen Verbündeten Sowjetrussland nach mehr als zwei Monate dauernden Verhandlungen in Brest-Litowsk einen Diktatfrieden abgerungen, gegen den der spätere Vertrag von Versailles sich fast schon mild ausnehmen wird.

Um fünf Uhr nachmittags, so meldet es der Vorläufer der Süddeutschen Zeitung, war es soweit: Das Dokument wurde unterzeichnet. Damit hatte Russland nicht nur den Krieg verloren, sondern fast alle westlichen nichtrussischen Gebiete sowie große Teile seiner Rohstoffvorkommen und Industrie. An der Ostfront ist der Erste Weltkrieg damit nach mehr als drei Jahren offiziell beendet.

Das Münchner Blatt freut sich über das "so gewaltige Ereignis" und einen "überwältigenden Erfolg". Und setzt darauf, dass die Mittelmächte um Deutschland und die Donaumonarchie mit dem Ende des Zweifrontenkrieges ihre "Handlungsfreiheit im größten Maßstabe" zurückerhalten. Der Sieg im Osten löst im Kaiserreich eine Welle der Zuversicht und Euphorie aus, dass der leidvolle Krieg doch noch zu gewinnen sein werde - sie wird nicht lange anhalten.

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Die Reichsführung überschätzte ihre Rolle in der Oktoberrevolution 1917 maßlos. Später versuchte Berlin, den Bolschewismus auszunutzen - mit katastrophalen Folgen.

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Verzwickter ist die Lage auf der Seite des Gegners. Die führenden Köpfe der Russen streiten heftig darüber, ob der "Schandfrieden", wie ihn selbst Lenin nennt, anzunehmen sei. Doch am Ende setzt sich der Bolschewistenführer mit seiner Ansicht durch, dass dies notwendig sei, um die Weltrevolution zu retten. Der junge Staat brauche eine Atempause, um sich selbst zu konsolidieren. Mit dieser Entscheidung löst Lenin überdies eines der zentralen Versprechen ein, das wesentlich zum Erfolg der Oktoberrevolution 1917 beitrug, bei der die Bolschewiki in Russland die Macht ergriffen: dem gebeutelten Land endlich Frieden zu verschaffen.

Schon unmittelbar nach dem erfolgreichen Umsturz bekräftigt Lenin in einem Dekret den Willen der neuen russischen Regierung, den Krieg zu beenden. Am 15. Dezember unterzeichnen Vertreter Russlands und der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn einen Waffenstillstandsvertrag - Soldaten beider Seiten feiern das Ereignis mit einem gemeinsamen Tanz an der Frontlinie. Noch vor Weihnachten werden Friedensverhandlungen aufgenommen.

Als Ort der Gespräche haben sich die Mittelmächte Brest-Litowsk ausbedungen, den Sitz des deutschen Oberbefehlshabers Ost. Ein trostloses Städtchen, das zu Anfang des Krieges von russischen Truppen auf dem Rückzug niedergebrannt worden war, dessen militärische Festung jedoch noch intakt war. "Der Platz hatte das Aussehen einer preußischen Kaserne, die auf die polnisch-ukrainische Steppe verpflanzt worden war", schreibt der Historiker Isaac Deutscher in seiner Trotzki-Biografie.

Deutsche mokieren sich über Tischmanieren der Revolutionäre

Bei den Verhandlungen prallen Welten aufeinander. Hochdekorierte Angehörige der deutschen und österreichischen Aristokratie treffen auf schlicht gekleidete Berufsagitatoren, ehemalige politische Sträflinge, Arbeiter und Soldaten. Unter den russischen Delegierten ist auch eine Frau, die Sozialrevolutionärin Anastassija Bizenko, die 1905 einen zaristischen Kriegsminister umgebracht hatte.

Die einzige Delegierte: Anastassija Bizenko (vorne) neben dem ukrainischen Delegierten Schachrai, im Hintergrund vier russische Kammerstenographinnen. (Foto: SZ Photo)

"Die Deutschen und ihre Verbündeten hatten so etwas noch nie gesehen - jedenfalls nicht im Rahmen formeller diplomatischer Unterredungen", schreibt Historiker Robert Gerwarth (Die Besiegten, München 2017). Mehrfach habe sich etwa der österreichisch-ungarische Außenminister Ottokar Graf Czernin über die schlechten Tischmanieren der Bolschewiki beschwert. Ein Großteil der 14 Delegierten der Mittelmächte betrachtet die 28 russischen Abgesandten als Emporkömmlinge oder "überspannte Toren, die von einer Laune des Geschicks auf die Bühne geschleudert worden waren" (Isaac Deutscher) und schon bald wieder abtreten würden.

Aus der Perspektive der revolutionären Russen stellt sich das allerdings anders dar: "Historische Umstände hatten es so gefügt, daß die Delegierten des revolutionärsten Regimes, das die Menschheit je gekannt hat, an einem Tisch sitzen mußten mit den diplomatischen Vertretern der allerreaktionärsten Kaste unter allen regierenden Klassen", beschreibt Leo Trotzki das Szenario später.

Der gerade erst ernannte Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten Trotzki übernimmt kurz nach Weihnachten von Adolf Joffe die bislang eher zahme Verhandlungsführung für die bolschewistische Gesandtschaft. Ein Foto (siehe oben) zeigt die Ankunft Trotzkis am Bahnhof von Brest-Litowsk.

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Neben Joffe und Lew Kamenew lässt sich Trotzki auch von Karl Radek begleiten, einem polnischen Juden und nominell österreichisch-ungarischen Staatsbürger, der schon mit Lenin im legendären deutschen Sonderzug von der Schweiz in Richtung Russland gereist war. Trotzki will damit ein deutliches Zeichen setzen, dass es den Bolschewiki, was Freund oder Feind angeht, eben nicht um Nationalitäten geht, sondern um Klassen. Radek (auf dem Foto nicht zu sehen) soll die am Bahnhof wartenden Diplomaten und Offiziere der Mittelmächte zudem sogleich dadurch düpiert haben, dass er vor ihren Augen revolutionäre Flugschriften an deutsche Soldaten verteilte.

Während Deutschland und seine Verbündeten bestrebt sind, die Verhandlungen schnell abzuschließen, um endlich die Hand für die Kriegführung im Westen frei zu haben, spielt Trotzki auf Zeit. Den Russen ist bewusst, dass die sogenannte Selbstbestimmung, die die Mittelmächte für westlich von Russland gelegene Gebiete fordern, dort de facto die deutsche Vorherrschaft besiegelt. Da die Bolschewiki mit einem Friedensvertrag nur verlieren können, hofft Trotzki, durch lange Verhandlungen den Ausbruch revolutionärer Aktionen in Deutschland und Österreich positiv beeinflussen zu können.

Den Mittelmächten ist klar, worauf die russische Seite abzielt. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. vermerkt in einem Protokoll: Die Bolschewiki wollten durchsetzen, dass alle Länder sich sozialistisch-revolutionär umformten. "Daher quasseln sie so lange in der Hoffnung, bei ihren Gegnern die Sozialisten durch diesen Quatsch zu entflammen ... Trockij hofft und erwartet die 'Selbstbestimmung' der Völker der Mittelmächte durch die Revolution, die nach seiner Meinung jeden Tag hier ausbrechen muß!", führt Historiker John Röhl in seiner Wilhelm-Biografie auf.

Sowjetische Delegation in Brest-Litowsk, 1918 Die sowjetische Verhandlungsdelegation auf dem Weg zum Konferenzraum, um den Friedensvertrag auszuverhandeln. Von links: Trotzki (2. von links), Admiral Altvater und Kamenew. (Foto: SZ Photo)

Berlin und Wien sind nicht bereit, die Hinhaltetaktik mitzumachen. Am 9. Februar 1918 schließen sie einen Separatfrieden mit der Ukraine ab. Trotzki beendet daraufhin abrupt die Friedensverhandlungen, allerdings mit einem für die Mittelmächte unerwarteten Schritt: "Wir gehen aus dem Krieg heraus, sehen uns aber genötigt, auf die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zu verzichten", erklärt der bolschewistische Verhandlungsführer.

Doch die Mittelmächte erkennen das von Trotzki erklärte Kriegsende nicht an - und rücken erneut gen Osten vor. Innerhalb weniger Tage besetzen sie praktisch ohne Gegenwehr Livland, Estland, Weißrussland und die Ukraine - und stehen an den Grenzen zum russischen Kernland. Nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Führung entschließen sich die Russen dann doch dazu, Lenins Linie zu folgen und den von den Mittelmächten diktierten Friedensvertrag anzunehmen.

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Kein Mitglied des Zentralkomitees mag dazu nach Brest-Litowsk reisen. Am Ende bleibt es aus der Führungsriege Grigorij Sokolnikow überlassen, das Dokument zu unterzeichnen, der jedoch bis zuletzt betont, dass "dieser Friede kein Verständigungsfriede" ist.

Auf kurze Euphorie folgt lange Depression

Doch der Frieden von Brest-Litowsk sollte nicht von langer Dauer sein. Nach der kurzen Euphorie über den grandiosen Sieg im Osten folgt für Deutschland und seine Verbündeten die große Depression im Westen, wo wenige Monate später eine letzte Offensive verpufft. Im September ist der Krieg verloren. Die obersten Militärs Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff drängen die Reichsführung, Frieden zu schließen, solange noch die Frontlinien halten. Später werden die rechtsnationalen Feldherren wahrheitswidrig behaupten, konservative und linke Politiker hätten das Heer verraten - diese "Dolchstoßlegende" wird von rechten Kreisen begierig verinnerlicht, auch vom jungen Gefreiten Adolf Hitler.

Im November 1918 wird im Waffenstillstandsvertrag von Compiègne der Frieden von Brest-Litowsk aufgehoben, Franzosen, Briten und ihre Verbündeten haben den Krieg doch noch gewonnen. Nicht der kurze Triumph von Brest-Litowsk, sondern die Schmach des Versailler Vertrages wird sich ins historische Bewusstsein der Deutschen brennen.

Und der Sturz der deutschen Monarchie durch die Revolution scheint die Leninsche Sichtweise zu bestätigen, dass es vor allem eine Frage der Zeit ist, bis sich der Sozialismus auch anderswo durchsetzt. Zumindest für das eigene Land schafft Lenin mit seinem Willen zum Frieden die Grundlage für einen Jahrzehnte überdauernden Staat.

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