Das Essen kündigt sich mit einem Piepsen an. Fünf Minuten vor Ankunft meldet sich der Bote per SMS. Amazon hat dem DHL-Fahrer dafür eigens ein glänzend neues Smartphone in die Hand gedrückt. So kann der neugierige Hungrige vom Fenster aus beobachten, wie ein Mann in der gelb-roten Kluft des Paketdienstes zwei Kühltaschen über die Straße zur Haustüre trägt, die so gar nicht in das Bild passen: Statt des Kartonbrauns der üblichen Päckchen sind die Taschen im Grün von Amazon-Fresh gehalten. Und frisch ist die Ware dann auch.
Von Eisbeuteln gekühlte Luft strömt aus den Papiertüten, die der Bote aus den Taschen hebt. Für die Menge an Bestelltem ist die Masse an Verpackung überdimensioniert. Der Fahrer sagt pflichtschuldig: "Ich soll fragen, ob ich schon Pfandflaschen mitnehmen kann." Er macht es heute wie der Kunde auch zum ersten Mal. Offenbar hat er dafür klare Anweisungen von seinem Auftraggeber erhalten. Für 15,40 Euro hat Amazon dem Prime-Kunden einen Salatkopf ins Haus geschickt, an dem kein welkes Blatt zu finden ist; eine Gurke, die an den Zähnen schmerzte, würde man gleich hineinbeißen, so kalt ist sie; zwei tadellose Kiwis; zwei eingeschweißte Kabeljau-Filets aus dem Nordostatlantik, die nun in West-Berlin in der Pfanne landen werden, und einen Liter "Frische Bergbauern Milch" im Tetrapak, an dessen Oberfläche das Wasser kondensiert - wie aus dem Kühlregal. Und weil es der erste Lebensmittel-Liefertag ist, liegen Kekse als Willkommensgruß bei.
Seit diesem Donnerstag gibt es nach den USA, Großbritannien und Japan Amazon Fresh jetzt auch in Deutschland, zunächst in Berlin, München soll bald folgen. Mehr als zwei Jahre hatten Experten aufgeregt darüber spekuliert, ob der US-Internethändler Amazon das wirklich tun würde: mit frischen Lebensmitteln handeln? Ja, er tut es. Manche glauben nun, man werde sich an diesen 4. Mai 2017 noch erinnern. Es sei der Anfang vom Ende des klassischen Lebensmittelgeschäfts; ein Wendepunkt, an dem sich die Spielregeln ändern. Weg von der Fixierung auf Betriebs- und Investitionskosten, hin zur Prozessoptimierung.
Oder anders ausgedrückt: Wie kann man die Menschen mit Obst, Gemüse, Fisch und Frischmilch versorgen, ohne dass sie in den Supermarkt oder Discounter gehen müssen? Die Antwort auf diese Frage ist: mit einer 100-prozentig optimierten Lieferkette, die zwei Bedingungen erfüllt: Erstens muss sie gewährleisten, dass der frische Salatkopf zu einem Preis beim Kunden ankommt, den er noch zu zahlen bereit ist. Und zweitens muss sich die Lieferung auch fürs Unternehmen lohnen.
Noch ist der Online-Anteil beim Lebensmitteleinkauf deutschlandweit betrachtet verschwindend gering. Die Angebote waren bis vor Kurzem sehr beschränkt, vor allem aufgrund der Kosten, die eine Belieferung mit dem sogenannten E-Food mit sich bringt, vor allem wenn es gekühlt werden muss. Aber das Wachstumspotenzial gilt als enorm. Ansonsten würde sich Amazon nicht auf den Markt stürzen. Die vier etablierten deutschen Konzerne schreckten mit Ausnahme von Rewe im Wesentlichen aus einem Grund vor größeren Investitionen im Online-Bereich zurück: Sie haben kaum Interesse daran, sich selbst beziehungsweise einen Teil ihrer stationären Märkte abzuschaffen.
"Der deutsche Einzelhandel sitzt wie das Kaninchen vor der Schlange und wartet darauf, endgültig verschlungen zu werden", urteilt Dirk Homberg, Handelsexperte von JDA , einer auf Prozessoptimierung spezialisierten Softwarefirma. "Während Amazon seine Fähigkeit, Innovationen schnell und erfolgreich umzusetzen, nutzt und dabei die strategische Bedeutung der Supply Chain erkannt hat, diskutieren deutsche Einzelhändler noch über deren Sinnhaftigkeit."