Süddeutsche Zeitung

Amazon Fresh:Die Gurke kommt pünktlich

Lesezeit: 4 min

Von Michael Kläsgen und Markus Mayr, München

Das Essen kündigt sich mit einem Piepsen an. Fünf Minuten vor Ankunft meldet sich der Bote per SMS. Amazon hat dem DHL-Fahrer dafür eigens ein glänzend neues Smartphone in die Hand gedrückt. So kann der neugierige Hungrige vom Fenster aus beobachten, wie ein Mann in der gelb-roten Kluft des Paketdienstes zwei Kühltaschen über die Straße zur Haustüre trägt, die so gar nicht in das Bild passen: Statt des Kartonbrauns der üblichen Päckchen sind die Taschen im Grün von Amazon-Fresh gehalten. Und frisch ist die Ware dann auch.

Von Eisbeuteln gekühlte Luft strömt aus den Papiertüten, die der Bote aus den Taschen hebt. Für die Menge an Bestelltem ist die Masse an Verpackung überdimensioniert. Der Fahrer sagt pflichtschuldig: "Ich soll fragen, ob ich schon Pfandflaschen mitnehmen kann." Er macht es heute wie der Kunde auch zum ersten Mal. Offenbar hat er dafür klare Anweisungen von seinem Auftraggeber erhalten. Für 15,40 Euro hat Amazon dem Prime-Kunden einen Salatkopf ins Haus geschickt, an dem kein welkes Blatt zu finden ist; eine Gurke, die an den Zähnen schmerzte, würde man gleich hineinbeißen, so kalt ist sie; zwei tadellose Kiwis; zwei eingeschweißte Kabeljau-Filets aus dem Nordostatlantik, die nun in West-Berlin in der Pfanne landen werden, und einen Liter "Frische Bergbauern Milch" im Tetrapak, an dessen Oberfläche das Wasser kondensiert - wie aus dem Kühlregal. Und weil es der erste Lebensmittel-Liefertag ist, liegen Kekse als Willkommensgruß bei.

Seit diesem Donnerstag gibt es nach den USA, Großbritannien und Japan Amazon Fresh jetzt auch in Deutschland, zunächst in Berlin, München soll bald folgen. Mehr als zwei Jahre hatten Experten aufgeregt darüber spekuliert, ob der US-Internethändler Amazon das wirklich tun würde: mit frischen Lebensmitteln handeln? Ja, er tut es. Manche glauben nun, man werde sich an diesen 4. Mai 2017 noch erinnern. Es sei der Anfang vom Ende des klassischen Lebensmittelgeschäfts; ein Wendepunkt, an dem sich die Spielregeln ändern. Weg von der Fixierung auf Betriebs- und Investitionskosten, hin zur Prozessoptimierung.

Oder anders ausgedrückt: Wie kann man die Menschen mit Obst, Gemüse, Fisch und Frischmilch versorgen, ohne dass sie in den Supermarkt oder Discounter gehen müssen? Die Antwort auf diese Frage ist: mit einer 100-prozentig optimierten Lieferkette, die zwei Bedingungen erfüllt: Erstens muss sie gewährleisten, dass der frische Salatkopf zu einem Preis beim Kunden ankommt, den er noch zu zahlen bereit ist. Und zweitens muss sich die Lieferung auch fürs Unternehmen lohnen.

Noch ist der Online-Anteil beim Lebensmitteleinkauf deutschlandweit betrachtet verschwindend gering. Die Angebote waren bis vor Kurzem sehr beschränkt, vor allem aufgrund der Kosten, die eine Belieferung mit dem sogenannten E-Food mit sich bringt, vor allem wenn es gekühlt werden muss. Aber das Wachstumspotenzial gilt als enorm. Ansonsten würde sich Amazon nicht auf den Markt stürzen. Die vier etablierten deutschen Konzerne schreckten mit Ausnahme von Rewe im Wesentlichen aus einem Grund vor größeren Investitionen im Online-Bereich zurück: Sie haben kaum Interesse daran, sich selbst beziehungsweise einen Teil ihrer stationären Märkte abzuschaffen.

"Der deutsche Einzelhandel sitzt wie das Kaninchen vor der Schlange und wartet darauf, endgültig verschlungen zu werden", urteilt Dirk Homberg, Handelsexperte von JDA , einer auf Prozessoptimierung spezialisierten Softwarefirma. "Während Amazon seine Fähigkeit, Innovationen schnell und erfolgreich umzusetzen, nutzt und dabei die strategische Bedeutung der Supply Chain erkannt hat, diskutieren deutsche Einzelhändler noch über deren Sinnhaftigkeit."

Das könnte ein schwerwiegender Fehler sein. Zwar haben die Oligopolisten den stationären Markt weitestgehend unter sich aufgeteilt, womit sie einigermaßen gut leben können. Aber wie das Gezerre um die Supermärkte von Kaiser's Tengelmann zeigte, ist darüber hinaus nicht mehr viel zu holen. Neues Wachstum müssen sie woanders generieren. Das Online-Geschäft wäre da eine Möglichkeit, auch wenn es zunächst Verluste mit sich bringt.

Rewe hat noch am ehesten verstanden, dass sich die Kaufgewohnheiten in Großstädten verändert haben und bietet seine Online-Dienste in mehr als 70 deutschen Städten an. Aber erst seit Kurzem schicken die Rewe-Fahrer ihren Kunden SMS, in denen sie die genaue Lieferzeit präzisieren. So müssen die Verbraucher nicht sieben Stunden lang zu Hause auf die Lieferung warten. Rewes Online-Kunden können zudem besonders viele Punkte beim Kundenbindungsprogramm Payback sammeln.

Seit Anfang Januar kümmert sich Vorstand Jan Kunath gesondert um den Online-Shop. Ein Zeichen dafür, welche Bedeutung Rewe dem Markteintritt von Amazon beimisst. Bei Rewe rechnet man nun mit einem harten Verdrängungswettbewerb in einem Geschäftsbereich, der vorerst nichts als Verluste verspricht. Immerhin stieg der Umsatz bei Rewe Online 2016 um 60 Prozent auf gut 100 Millionen Euro.

Auf eine Zahl in dieser Größenordnung will Edeka erst noch kommen. Deutschlands Branchenführer hinkt online derzeit hinterher. Das liegt vor allem an der Struktur. Der Edeka-Verbund besteht aus mehreren Regionen, die unterschiedliche Interessen haben, und aus einer Vielzahl selbständiger Kaufleute, die, jeder für sich, längst Lebensmittel an ihre Kunden liefern. Aber bislang fiel es ihnen schwer, sich auf eine gemeinsame Plattform zu einigen.

Vorstandschef Markus Mosa kündigte vergangene Woche an, Edeka wolle noch Ende dieses Jahres auf das Umsatzniveau von Rewe kommen - wohlgemerkt im Online-Geschäft insgesamt, nicht mit frischen Lebensmitteln. Den von Tengelmann übernommenen Lieferdienst Bringmeister will er zu der gewünschten gemeinsamen Plattform für die Kaufleute ausbauen - in Anbetracht des Starts von Amazon Fresh wirkt dieser Versuch recht zaghaft.

Für viele Anbieter ist Berlin das deutsche Testgelände

Dabei dreht es sich wie bei Amazon immer in erster Linie um Berlin. Bringmeister ist vor allem in der Hauptstadt aktiv; ein Rewe-Sprecher verweist stolz darauf, der Lieferdienst des Konzerns sei erst kürzlich zu "Berlins Liebling" unter den Anbietern gewählt worden. Lidl plante hier bis vor Kurzem seinen Express-Dienst, der dann aber überraschend gestoppt wurde, weil der Discounter nach internem Streit entschied, zunächst die Priorität auf die Expansion in den USA zu legen. Kaufland hingegen, ein anderes Unternehmen aus der Schwarz-Gruppe, liefert seit vergangenem Oktober bereits Lebensmittel aus. Wo? Wie Amazon in Berlin und Potsdam. Das sogar zu günstigeren Konditionen, als es der US-Internethändler nun tut. Seit Januar wird das Angebot zudem durch eine Abholstation in Berlin-Niederschöneweide ergänzt. Ganz offenkundig ist Berlin das Testgelände für die Online-Shops der Lebensmittelhändler in Deutschland. Auch Real versucht sich dort.

Nur Aldi Süd und Nord halten sich bislang komplett aus der Thematik heraus, offiziell jedenfalls. In China hingegen eröffnete Aldi vergangene Woche mit einer für Aldi-Verhältnisse ungewöhnlich glamourösen Schau einen reinen Online-Shop. Experten rechnen damit, dass Aldi auch für Deutschland Pläne in der Schublade liegen hat und sie herausholt, sobald sich das Online-Geschäft rechnet.

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Quelle:
SZ vom 05.05.2017
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