Eine Buchpremiere vorige Woche in Berlin, ein Club voller Menschen in teuren Sneakers, viel Medienprominenz. Der Schriftsteller, Ende dreißig, betritt die Bühne im Anzug, und als er den Mikrofonständer knarzend etwas höher stellt, erkennt man im Scheinwerferlicht sein auffallendstes Accessoire: knallblauen Nagellack.
Er ist nicht der Einzige auf diesem Event. Und es handelt sich dabei auch nicht um eine dieser "Typisch Berlin"-Episoden. Nein, wer derzeit etwas näher an die Fotos von roten Teppichen heranzoomt, egal ob diese in New York, Paris oder L. A. ausliegen, erblickt an den Fingerspitzen männlicher Schauspieler, Sänger, Rapper oder sonstiger Stilikonen immer wieder exakt dieses Detail: bunt lackierte Nägel.
Plastische Chirurgie:"Doppelkinn-OPs sind irre auf dem Vormarsch"
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Ja, das gab es schon mal. Aber anders als vor 20 Jahren die Emos, vor 30 Jahren Kurt Cobain und vor 40 Jahren David Bowie ist das Stilmittel der bunten Fingerspitzen plötzlich nicht mehr Erkennungsmerkmal nerdiger Subkulturen oder einzelner betont schräg gebrandeter Indie-Stars. Nein, es ist bei den wichtigsten Vertretern der erfolgreichsten Kultursparten der Welt angekommen, mit anderen Worten: mitten im Mainstream.
Harry Styles etwa taucht seit Monaten so gut wie nie ohne regenbogenfarben bemalte Nägel auf. Der Rapper Asap Rocky lässt sich offenbar für fast jedes Instagram-Foto neue, aufwendig gedruckte Bilder auf die Finger applizieren. Sein Kollege Machine Gun Kelly, der neben seiner Vorliebe für Schmuck und Nagellack derzeit vor allem dafür bekannt ist, mit seiner Freundin Megan Fox auf roten Teppichen zu knutschen, bringt diesen Herbst sogar eine eigene Nagellack-Linie heraus.
Zur Nagelpflege gehen manche Männer schon ein paar Jahre. Doch das hier ist mehr
Und der puertoricanische Megapopstar Bad Bunny (35 Millionen Follower auf Instagram) zeigt auf dem aktuellen Cover von Allure gerade, was man noch alles machen kann, wenn einem der Lack zu zweidimensional wird: Er trägt zehn Dominosteine statt Fingernägeln (die er sonst am liebsten spitz zugefeilt und in Neongrün bevorzugt).
Es ist jedenfalls kein Wunder, dass das US-Herrenmagazin Esquire schon mal das "Jahr der Menicure" ausgerufen hat. Dabei leitet der Begriff der "Manniküre" natürlich ein bisschen in die Irre, denn über die Pflege, wie sie vor ungefähr zehn Jahren in Mode kam, geht der Trend weit hinaus.
Damals öffneten in Innenstadtlagen plötzlich hippe Männer-Maniküreläden. In diesen Etablissements mit Namen wie "Hammer & Nagel" konnte der Großstadtkerl sich die Nagelhaut abzuppeln und die strapazierten Nägel feilen und polieren lassen. Die gepflegte Hand war das Insigne des modernen Mannes. Aber knallblaue Farbe oder gar Dominosteine zu applizieren? Wäre dort undenkbar gewesen.
Nun aber zeigt sich: Mehr und mehr junge Männer fühlen sich offenbar wohl mit den kolorierten Krallen. Und zwar längst nicht nur exaltierte Stars wie die oben erwähnten.
Während der ersten Monate der Pandemie verkauften sich Brancheninsidern zufolge Sets für die Maniküre zu Hause auffallend gut. Klar, die Salons hatten zu. Der Lockdown habe aber auch neugierigen Männern einen "Safe Space gegeben, um mit dem Experimentieren zu beginnen", erklärte kürzlich ein junger Gründer einer Beauty-Linie für Männer dem Magazin Business of Fashion, das in einem Artikel den Trend ergründet. Darin sagt eine Branchenexpertin, Fingernägel seien für junge Erwachsene eine Art "Einstiegsdroge für Schönheitsexperimente und Selbstdarstellung" geworden. Gerade in Verbindung mit Tiktok, wo "Nail Art" zu den beliebtesten Kategorien überhaupt gehört.
Vielen geht es nicht in erster Linie um Mode und Ästhetik, sondern gewissermaßen um Solidarität
Wir halten fest: Die Langeweile im Lockdown und eine Video-App haben offenbar viele junge Männer in letzter Zeit zum Lackieren gebracht. Dazu kommt aber natürlich der generationale Überbau. Denn die Generation Z stellt ja ohnehin sehr grundsätzlich infrage, ob und wie weit die klassischen Gendernormen eigentlich noch für sie brauchbar sind.
So ist es kein Zufall, dass die derzeit wohl hippste Rockband der Welt, Måneskin, aus Männern besteht, die ganz selbstverständlich Perlenketten, Lippenstift und Frauenkleider tragen. Und nicht umsonst ist der größte Filmstar dieser Generation der 25-jährige Timothée Chalamet, dessen irritierend non-toxischer Charme ihn gerade in gefühlt jede zweite hochkarätige Hollywood-Produktion katapultiert und den das Time-Magazin gerade als "Next Generation Leader" auf sein Cover gepackt hat. Unnötig zu sagen, dass auch Chalamet häufig mit bunt lackierten Nägeln zu sehen ist.
Es geht vielen dieser Männern dabei also vermutlich nicht in erster Linie um Mode und Ästhetik. Sondern um das Verwischen der Geschlechtergrenzen, das Überwinden klassischer Merkmale von Hetero- und Homosexualität. Wenn man so will: ein Zeichen der Solidarität mit sexuellen Identitäten, die für das Tragen von Nagellack an vielen Orten noch heute diskriminiert werden.
Schon klar, zehn Lacktupfer auf den Fingern mögen auch einfach nur lustig aussehen. Sie signalisieren aber auch: Liebe Standard-Heteromänner, die ihr euch hierüber aufregt - ich gehöre nicht zu euch.