WM 2010: Presseschau:Kapstadt in Oranje, Durban in Schwarz-Rot-Gold?

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Holland jubelt über den Finaleinzug, die Presse sieht aber noch Steigerungsmöglichkeiten; Deutschland darf sich vor dem Duell mit Spanien nicht von der Diskussion um Ballack ablenken lassen.

Neben der neuen Effizienz, stimme diesmal auch der Beitrag Fortunas, stellt Christian Eichler (FAZ) fest: "Mit einem kühl erarbeiteten 3:2-Sieg gegen Uruguay im Halbfinale in Kapstadt setzte die neue, nüchterne Oranje-Generation den Weg fort, den ihre spielerisch brillanteren Vorväter nie bis zum ganz großen Triumph, dem WM-Titel, hatten abschließen können. Im richtigen Moment half auch das Glück, denn alle drei Tore fielen, nachdem der Ball vom Pfosten in die richtige Richtung weitergeprallt war, ins Netz nämlich."

Holland - Uruguay
:Kahn hätte ihn gehabt

Holland steht zum ersten Mal seit 1978 im Finale einer Weltmeisterschaft. Die Elf erreicht das Endspiel nicht mit bezauberndem Fußball, sondern mit Paukenschlägen.

Sonntagsschuss statt Zauberpass

Wenig angetan vom Dargebotenen zeigt sich Constantin Wissmann (taz): "Die Deutschen werden sich das Spiel am Fernseher ganz genau angeschaut haben. Denn das erste Halbfinale dieser Weltmeisterschaft bot der deutschen Mannschaft den genauen Blick auf den definitiven nächsten Gegner, ob im kleinen oder großen Finale entscheidet sich am Mittwoch beim Spiel gegen Spanien. Es muss ein entspannter Abend im Hotel Velmore Grand gewesen sein. Angst und Schrecken verbreitete keiner, auch nicht Holland, welches das Spiel mit 3:2 gewann. Es war eine zerfahrene Partie mit vielen, oft grotesken, Fehlpässen auf beiden Seiten."

Nach diesem Tor zeigte sich das neue Gesicht der Holländer, so Sven Goldmann (Tagesspiegel): "Die Holländer sind nicht mehr die ungestüm anrennende Mannschaft, die einen knappen Sieg als Makel empfindet und erst nach dem zweiten, dritten oder vierten Tor zufrieden ist. Unter Bert van Marwijk erfreuen sie sich zur Not auch der Kunst des erfolgsorientierten Verwaltens. Entsprechend zurückhaltend gestalteten sie das Spiel nach dem unverhofft guten Start, im festen Vertrauen darauf, ein technisch und taktisch eher minderbemittelter Gegner wie Uruguay könne ihnen nicht mehr gefährlich werden (...). Doch so einfach machte es ihnen der Außenseiter aus Südamerika nicht. Die Uruguayer zeigten sich überhaupt nicht beeindruckt und nahmen die von den Holländern ausgesprochene Einladung zum längeren Verweilen in deren Platzhälfte dankend an." Der Doppelschlag Mitte der zweiten Halbzeit sei dann jedoch die Entscheidung gewesen, schreibt Twan Bovée (De Telegraaf): "Drei magische Minuten stellten für Bert van Marwijk und Co. die Weichen Richtung Finale. In der 70. Minute schaufelte Sneijder den Ball, der noch leicht von Maximiliano Pereira abgefälscht wurde, überlegt in die lange Ecke. Unmittelbar darauf versetzte Robben den Uruguayern den Todesstoß. Einen Vorstoß Kuyts über den Flügel schloß er per Kopf ab. Diesmal blieb keiner mehr cool und die ekstatische Freude brach aus."

Spiel nach vorne mit Luft nach oben

Einen durchaus verdienten Sieg Hollands hat Christian Spiller (Zeit Online) gesehen. Die Offensivbemühungen haben ihn jedoch nicht überzeugt: "Gegen Brasilien half den Holländern ein bisschen Glück, heute half ein limitierter Gegner. Im Gegensatz zu den beiden anderen Halbfinalisten Deutschland und Spanien konnte man bei den Niederländern bisher keine echte Spielidee erkennen, zumindest keine offensive. Das Defensivspiel organisierte Mark van Bommel wie immer prächtig, die größere Disziplin in der Abwehr scheint aber zu Lasten der Kreativität zu gehen. Wie so oft. Heute mussten ein Sonntagsschuss und ein doppelt abgefälschtes Abseitstor herhalten. Einzig der dritte Treffer, ein Kopfballtor von Arjen Robben, war herausgespielt."

Auch Willem Vissers (De Volkskrant) sieht bei den Schlüsselspielern für die Offensive Steigerungsmöglichkeiten: "Eigentlich spielte niemand so richtig gut und das ist ein bisschen wenig im Halbfinale einer Weltmeisterschaft. Wesley Sneijder machte trotz des entscheidenden Treffers sein schwächstes Spiel, Robin van Persie zeigte sich unverändert kraftlos und Arjen Robben bekam zu wenig Ballkontakte."

Mehr als eine Kopie

Stefan Osterhaus (NZZ) stellt fest, dass Deutschland das spanische Repertoire um eine Facette erweitert: "Löw hat zwar eine klare Vorstellung vom idealen Fussball, doch er ist auch ein Pragmatiker. Zwar ist der spanische Fussball der letzten Jahre mit seinem virtuosen Kurzpassspiel sein Leitbild, doch das deutsche Team ist an dieser WM keine Epigone der Iberer, die ihnen vor zwei Jahren im Final der Euro noch weit überlegenen waren. Löws Equipe ist nicht nur im Angriff stark, sondern versteht sich exzellent auf Konter."

Alle für Einen

Axel Kintzinger (FTD) bewertet die Aussagen Löws zur Favoritenrolle als Tiefstapelei: "Es scheint, als habe die Nationalmannschaft Gefallen gefunden an der Rolle des Underdogs. Nicht einmal Rachegelüste wegen des gegen Spanien verlorenen EM-Endspiels vor zwei Jahren kommen in dieser Atmosphäre auf. Stattdessen Lob für den Gegner: 'Wir haben 2008 gegen die mit Abstand stärkste Mannschaft verloren', erinnerte Löw an das Finale von Wien - und wich dann doch von seiner Haltung ab. 'Diesmal ist es eine andere Situation', sagte der Bundestrainer, 'diesmal sind wir besser.' Da stellt sich natürlich umgehend die Frage, ob Spanien auch besser geworden oder zumindest gleich stark geblieben ist - die bisherigen Auftritte des Europameisters lassen diesen Schluss ja nicht unbedingt zu." Der Ausfall Thomas Müllers beschäftigt die Presse weiterhin. Michael Rosentritt (Zeit Online) empfiehlt, dem Ersatzmann nicht alles aufzubürden: "Vielleicht sollte die gesamte Mannschaft ein paar mehr Müller'sche Züge annehmen. Zuzutrauen ist es ihr. 'Was die Mannschaft an Willen abgerufen hat, das war nicht nur internationales Niveau, sondern Champions-Niveau', sagte Löw nach dem stilbildenden Sieg: 'Ich habe meinen Spielern gesagt: Ihr seid jünger, schneller und ausdauernder.' Er hätte auch sagen können: Ihr seid alle Müller!"

Mal was Überraschendes

Der Bundestrainer hat drei Namen als Müller-Ersatz in die Runde geworfen. Trochowski dürfte Favorit sein, Cacau nur Außenseiterchancen haben. Die dritte Variante hat es zumindest einigen angetan. André Görke (Tagesspiegel) führt aus: "Eine vielversprechende Variante könnte der Einsatz des fußballerisch so ungemein begabten Toni Kroos sein. 20 Jahre ist der Mecklenburger alt, geboren als einziger im Team in den neuen Bundesländern. Kroos (zwei WM-Einsätze), der in den vergangenen eineinhalb Jahren an Bayer Leverkusen ausgeliehen war und sich dort einen Namen machte, gilt als ballsicher und auch clever in Standardsituationen, die bisher nur bedingt zu den Stärken der Nationalmannschaft zählten. Mit ihm kämen neue Ideen ins Spiel, die die Spanier dann doch noch überraschen könnten. Die Geschichte mit dem blauen Viertore-Kuschelpulli kennen sie ja schon." Michael Ashelm (FAZ) stimmt mit ein: "Der 20 Jahre alte Kroos hinterließ während der vergangenen Tage im Training einen überaus motivierten Eindruck, zudem käme sein Einsatz wohl für die Spanier weitaus überraschender als der von Trochowski. Der Spieler selbst zeigt sich bereit für die Aufgabe, auch wenn sie nicht direkt seinem Profil entspricht. 'Ich empfinde es als großes Lob, dass der Trainer mir sogar diese Position zutraut. Wenn man schon bei der Nationalmannschaft dabei ist, würde man gern auf vielen Positionen spielen - natürlich auch rechts', sagt Kroos. Dagegen hat der ausgebildete Stürmer Cacau nur Außenseiterchancen."

WM 2010: Spanien - Deutschland
:Zehn gute Gründe

Spanien gewinnt, weil: das Team noch nicht am Limit ist und den Deutschen Müller fehlt. Die DFB-Elf siegt, weil: der Capitano weg ist und es regnen soll. Zehn Gründe, warum das Spiel so ausgehen wird - oder ganz anders.

Thomas Hummel, Durban

Michael Horeni (FAZ) wirft einen Blick auf den neuen Taktgeber im deutschen Mittelfeld und auf zwei entscheidende Duelle: "Manchmal dauert es, bis man begreift, dass man es mit jemanden zu tun hat, der ein Stück mehr zu sich selbst gefunden hat. 'Bastian Schweinsteiger hat einen unglaublichen Reifeprozess gemacht in den letzten zwei Jahren', sagte Joachim Löw über seine Entwicklung. 'Bei ihm beobachtet man eine besonders hohe Konzentration.' Gegen Spanien wird es darauf ankommen, wie Schweinsteiger zusammen mit Khedira gegen das Mittelfeld-Duo Iniesta und Xavi besteht, die beste Achse der Welt. 'Diese Spieler sind entscheidend für das spanische Spiel, sie geben den Rhythmus vor', sagt Schweinsteiger. Dass er mit seinen Kollegen auch diese vorletzte Prüfung bestehen wird, daran lässt er keinen Zweifel. 'Ich will nicht wieder nach Berlin kommen ohne etwas in der Hand.'"

Duelle Deutschland vs Spanien
:Als Hoeneß die Spanier umkurvte

Deutschland gegen Spanien - diesmal ist es nur ein Testspiel, aber in der Vergangenheit gab es einige legendäre Duelle. Vom Torschützen Uli Hoeneß bis zum überrumpelten Philipp Lahm gegen Fernando Torres.

Angriff auf den Capitano

Jan Christian Müller (FR) ist wenig begeistert von Zeitpunkt für die Eröffnung der Debatte um die Kapitänsbinde der deutschen Nationalmannschaft: "Lahm hat mit seinem Führungsanspruch auch über die Weltmeisterschaft hinaus eine angesichts der neu geordneten, sehr gut funktionierenden Hierarchie nachvollziehbare Forderung gestellt. Nur: Musste das unbedingt jetzt raus? Sicher nicht! Im Nachhinein können alle Beteiligten froh sein, dass Ballack abgereist ist, ehe er Kenntnis von Lahms Äußerungen erlangte. Andernfalls wäre die Vorbereitung aufs WM-Halbfinale noch viel, viel empfindlicher gestört worden." Michael Horeni (FAZ) glaubt, dass Lahm die Rückendeckung der Mannschaft besitzt: "So wie man das junge Team in den vergangenen Wochen erleben konnte, kann man kaum glauben, dass Lahm mit seinem Alleingang nicht auch eine interne Stimmung artikulierte, die seit Wochen zu spüren ist, aber über die öffentlich nur in Andeutungen geredet wurde. Die Abwesenheit des jahrelang herrschenden und beherrschenden Kapitäns empfinden einige Spieler wie eine Befreiung, die flache Hierarchie mit der Verantwortungsteilung auf ganz viele verschiedene Schultern als einen entscheidenden Faktor für den Erfolg. Die Verantwortung, die Ballack in der Vergangenheit übernahm und auch an sich zog, hat vielfältige Kräfte freigesetzt, von denen der Bundestrainer und auch die Spieler zu Beginn gar nicht so genau wussten, wie weit sie tatsächlich tragen würden."

Ballack für Baku

Christian Spiller (Zeit Online) ist nicht bereit, Ballack jetzt schon abzuschreiben: "Im Augenblick scheint die DFB-Elf ganz gut ohne Michael Ballack klarzukommen. Aber Ballack wird den Ehrgeiz entwickeln, zurückzukommen. Und es wird diese Momente geben, diese dreckigen Qualifikationsspiele in Baku oder Astana. Spiele gegen Mannschaften, die ähnlich wie die Serben nicht daran denken, der deutschen Elf Raum für ihr Spiel zu geben. Wenn es eng wird vor dem gegnerischen Strafraum wird die Wucht eines Michael Ballack noch immer benötigt, seine Zweikampfstärke und Torgefahr. Das Ganze kann allerdings nur funktionieren, wenn Michael Ballack die veränderte Hierarchie in der Mannschaft anerkennt. Wenn er seine Rolle als Elder Statesman annimmt. Auf dem Feld kann er noch immer weiterhelfen, die Zeiten eines "Capitano" aber sind vorbei."

Iberische Spielkunst gesucht

Peter B. Birrer (NZZ) sieht das fußballerische Vermögen der Spanier aufblitzen, aber nicht konstant leuchten: "Die Beobachter werden das Gefühl nicht los, als wäre die hohe Spielkunst zwar vorhanden, aber in einer Schachtel versteckt. Von Zeit zu Zeit hebt sich deren Deckel, und man kann etwas vom Schönen auf der Fussballwelt erhaschen. Es ist da, das Schöne, aber einfach nicht immer ersichtlich. (...) Bis jetzt erzielte Deutschland 2010 13 WM-Tore, mehr als doppelt so viele wie Spanien. Das muss nichts heissen, weil die spanische Kunst bezaubernder und betörender als sonst eine sein kann. Es fragt sich indessen, wie viel Kraft sie noch hat, diese zur Verklärung neigende Schönheit des Fussballs."

Im Interview mit Andreas Rüttenauer (taz) erklärt DFB-Chefscout Urs Siegenthaler, dass ihn die Spanier nicht überraschen werden.

Wolfgang Hettfleisch (FR) wähnt den Grund für Torres' Leistungstief im körperlichen Bereich: "Er hat alles, was einen Klassestürmer ausmacht, ist im perfekten Alter, wird in der Nationalelf von einer brillanten Mittelfeldreihe mit Anspielen gefüttert. Doch seine bisherigen WM-Auftritte lassen nur einen Schluss zu: Er ist nicht fit. Im spanischen Lager hört man das nicht gern. 'Es geht ihm gut, er wird immer stärker und wird ein Schlüsselspieler der WM sein', hatte Abwehrchef Carles Puyol vor dem Turnier behauptet. Nun lässt sich ergänzen: wider besseres Wissen. Die Sprints des eigentlich blitzschnellen Angreifers, der im April zum zweiten Mal in diesem Jahr am rechten Knie operiert worden war, lassen die Explosivität vermissen, sein Bewegungsablauf wirkt unrund. Torres räumt ein: ''Es ist ein schwieriges Turnier für mich, weil meine Fitness nicht die allerbeste ist.' Er mache aber Fortschritte. Dass er am Mittwoch eine weitere Gelegenheit von Anfang an erhält, sich die nötige Matchhärte zu holen, ist indes nicht sicher."

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