Am Anfang war der Gedanke an den Speibdusel. Das ist sonst eine sehr unangenehme Angelegenheit, zu Saisonbeginn jedoch bedeutete er nun einen Sieg für den zurzeit besten Skispringer. Speibdusel ist österreichisch und heißt auf Deutsch Norovirus oder umgangssprachlich Kotzerei. Diese setzt immer wieder auch die Besten außer Gefecht. Denn der Norm-Skispringer hat zwar Muskeln, ist aber auch eher leicht und krankheitsanfällig. Doch Stefan Kraft geht es gut.
Die 72. Vierschanzentournee steht unmittelbar bevor. Wie immer startet dieses Format in Oberstdorf und endet nach den weiteren Stationen Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck in Bischofshofen. Wie immer sind die meisten Publikumsplätze ausverkauft, wie immer haben sich im Verlauf des Dezembers bereits größere und kleinere Favoriten hervorgetan, drei Deutsche, Andreas Wellinger, Karl Geiger und Pius Paschke sind vorn dabei, weitere Österreicher und auch der Japaner Ryoyu Kobayashi. Wie stets kann auch eines der noch unbekannten und ohne Druck anfahrenden Talente groß rauskommen, etwa der Österreicher Daniel Tschofenig. Jedoch - wie es aussieht, wird Stefan Kraft gewinnen.
Sein Gegenmittel gegen alle Unbill eines fliegenden Athleten - schlechte Form, falsches Wachs, Seitenwind, plötzlicher Rückenwind, der den Springer nach unten drückt, oder eine Rille im Landeschnee - dieses Gegenmittel ist die gute Laune des Bischofshofeners.
Fünf von acht bisherigen Springen hat Kraft gewonnen, wenige auch mit Glück
Und damit ist er schon weit gekommen, nicht nur einst gegen den Speibdusel. Kraft hat in dieser Saison genügend Punkte gesammelt, die ihn als absoluten Favoriten ausweisen. Er hat einen Sprung, der fast hundertprozentig stimmt. Sein Material passt. Zu keiner Zeit plagten ihn größere Probleme, denn wenn etwas nicht stimmt, dann kann er es schnell korrigieren oder, wenn es etwas Mentales ist, einfach weglächeln.
Fünf von den acht bisherigen Springen hat er gewonnen, wenige auch mit Glück, manche mit großem Abstand. Den Part des zu Schlagenden spielt er eher lässig, auch wenn andere mögliche Hauptdarsteller ihm die Show stehlen könnten. Hinter Kraft liegen in der Gesamtwertung die drei Deutschen Andreas Wellinger, Pius Paschke und Karl Geiger, allerdings mit einem Abstand von 222 Punkten und mehr.
Aber es gibt noch einen weiteren Hauptdarsteller, der für viele Skisprungfans längst zum Tournee-Programm gehören sollte. Die Tournee der Frauen.
Noch heißt sie "Two Nights Tour (TNT)", ein schmissiger Name, der aber, ginge es nach den Skispringerinnen, eine Namensgebung für nur eine Tour sein sollte. Denn ab Dezember 2024 sollte sie wenigstens FNT (Four Nights Tour) heißen und das enthalten, was schon länger angestrebt wird: die Vierschanzentournee (VST) der Frauen, wie sie dann wohl auch wirklich heißt. Bedenken haben allerdings noch die Entscheider des österreichischen Verbands ÖSV, sie befürchteten wegen der nur relativ kurzen Organisationsphase Pannen bei einer zu plötzlichen Ausführung, die auch die Skispringerinnen verärgern könnten. Eine Tournee der Frauen sollte dann aber auch so aussehen wie die der Männer. Sie sollte ähnlich wie die Tour de Ski im Langlauf Männer und Frauen zu gleichen Terminen auf dieselben Anlagen lassen.
Auf Bali, sagt Stefan Kraft, entschleunigt sich das Leben
Bei der Two Nights Tour starten nun die Springerinnen in Garmisch und reisen danach nach Oberstdorf, während die Männer bereits aus Oberstdorf in Richtung der Olympiaschanze in Garmisch-Partenkirchen unterwegs sind. Angeführt werden die Springerinnen bei dieser "halben" Tournee mit Springen in Garmisch-Partenkirchen (30. Dezember) und Oberstdorf (1. Januar) von Katharina Schmid. Neben der Dreifach-Weltmeisterin von Planica zählen auch deren Gold-Kolleginnen aus Slowenien Selina Freitag (Oberwiesenthal), Luisa Görlich (Lauscha) und Anna Rupprecht (Degenfeld) zum deutschen Aufgebot.
Ein weiterer Punkt, der diese 72. Tournee zu einer besonderen macht, ist die große Zeitspanne vom letzten Weltcup in Engelberg, wo Paschke gewann, bis zum Auftakt-Springen, wegen des Heiligabends, der diesmal auf einen Sonntag fiel. Die Ruhepause beträgt somit zwölf Tage. In dieser Zeit kann sich viel ereignen. Das muss nicht gleich eine Grippe sein, doch der Rhythmus von Schlafen, Trainieren, Springen, Reisen, Schlafen, Trainieren und so weiter ist bei der ein oder anderen sensiblen Springer-Form gestört. Stefan Kraft aber dürfte das alles nicht berühren, er springt seinen Weg, ohne vom Pfad abzukommen. Etliche Verfolger hatten schon zwei, drei gute Sprünge und wurden dann plötzlich von Wind oder schlechtem Schlaf nach hinten gereicht. Kraft aber behielt seine Form, seinen Instinkt für den Wind, seine exzellenten Flugeigenschaften - womöglich auch als Folge seiner Erlebnisse auf Weltreise.
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Die hatte er sich lange gewünscht, und im April 2023 den Plan endlich in die Tat umgesetzt. Einmal um die Welt gereist war er mit seiner Freundin. Da hatte er endlich mehr gesehen als nur Schanzen und Schanzendörfer, nämlich die Welt, das Schlechte, aber auch das Gute, etwa auf Bali, denn: "Da entschleunigt sich das Leben."
Und alle, die nun zu wissen glauben, dass auch Kraft mal Fehler macht, dürften irren. Jetzt, da er wieder regelmäßig für einen Moment auf Schanzen sein Leben hoch beschleunigt, scheint er immer noch von dem Gedanken der Ruhe zu profitieren. Als er im Dezember das ein oder andere Mal nicht auf dem Podest stand, kam bei den Konkurrenten vielleicht Hoffnung auf. Dann aber folgte der bislang letzte Weltcup, in dem viele endlich zuschlagen wollten. Und sie sind gut gesprungen. Dann aber kam Kraft und segelte und segelte den anderen davon.