Spitzensportreform:Ein Monsterchen und viele Fragen

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Die deutschen Leichtathleten, hier Gina Lückenkemper, landeten im Potas-Ranking auf Rang eins, obwohl die Ergebnisse zuletzt eher mau waren. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Die Spitzensportreform in Deutschland wird schon wieder reformiert - mit "drastischen Veränderungen", wie die Beteiligten versprechen. Aber führt das neue Konzept endlich zu mehr Erfolgen - oder eher zu alten Fehlern im neuen Gewand?

Von Johannes Knuth

Am vergangenen Dienstag lud die Bundestagsfraktion der Grünen zu einer illustren Runde ins Berliner Paul-Löbe-Haus, bei Häppchen und Abendschein. Olaf Tabor war gekommen, der Leistungssportchef im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), dazu Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium (BMI), und Johannes Herber, Geschäftsführer der Sportlervertretung Athleten Deutschland. So saßen fast alle relevanten Parteien am Tisch, die zufällig gerade auch darüber brüten, wie der in schwere Nöte geratene deutsche Spitzensport wieder in die Spur finden soll.

Auf dem Menüplan stand, nebst Häppchen, auch ein gepfefferter Gang: "das am heißesten diskutierte Thema der deutschen Sportpolitik", wie es Marcel Emmerich nannte, der als Abgeordneter der Grünen Mitglied im Sportausschuss des Bundestags ist. Er meinte die neue Spitzensportreform, an der Politik und organisierter Sport seit Monaten schrauben und an der auch die Grünen beteiligt sind. Wenn auch, wie nun anklang, nicht ganz einvernehmlich.

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Die Reform werde in der Fraktion "durchaus kontrovers diskutiert", eröffnete Konstantin von Notz, der stellvertretende Fraktionschef, die Debatte. Eine "ausschließlich an der Maxime der Medaillenausbeute orientierte" Reform werde den Athleten ja nicht gerade gerecht - und damit war die "durchaus kontroverse" Debatte schon gut umrissen. Es dauerte nicht lange, und diese Berliner Runde erinnerte an einen abgestürzten Traditionsverein, der zurückwill in die erste Liga, bei dem mitten in der Saison dann aber Zwist und Zweifel keimen - und der nun zur Aussprache bittet.

Seit rund einem Jahrzehnt - spätestens seit der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière von der CDU 2015 von bundesdeutschen Spitzensportlern pauschal "ein Drittel mehr Medaillen" bei Großanlässen bestellte - schleppte sich der deutsche Sport durch verschiedene Stadien einer Spitzensportreform. Aber: Bis zuletzt schwappte da vor allem die Bürokratie zu neuen Rekordhöhen. Die Pegelstände in den Medaillenrankings hingegen sanken weiter ab. Olaf Tabor, der DOSB-Gesandte, räumte das beim grünen Sportabend in Berlin auch ein - und klang dann wie der Trainer, der seiner verunsicherten Mannschaft versichert, dass das Saisonziel trotzdem nicht gefährdet sei.

Man strebe mit der Reform gerade "drastische Veränderungen" an, versicherte Tabor. Zum Besseren natürlich. Und keine Sorge, allein in Gold, Silber und Bronze werde man Erfolge auch künftig nicht aufwiegen - selbst wenn die neue Reform explizit das Eintreffen unter den besten drei im Medaillenspiegel bei Winterspielen und Rang fünf bei Sommer-Olympia anstrebt. Also: Mehr Medaillen, aber nicht nur Medaillen?

Tabor steuerte damit direkt auf die Kernfragen zu: Woran soll sich der deutsche Spitzensport künftig messen lassen? Und wie stellt er eigentlich sicher, dass mit den "drastischen Veränderungen" nicht gerade alter Wein in neuen Schläuchen aufgetischt wird?

Oder, um noch mal im Kabinenduktus zu bleiben: Wie zum Henker soll das diesmal bitte etwas werden?

Ein Monster erwacht

Um das ganze Ausmaß dieser Geschichte zu ermessen, kehrt man am besten an jenen Ort zurück, an welchem dem Sport schon oft ein nötiger Anstoß versetzt wurde: in den Gerichtssaal. Zwei Journalisten hatten rund um die London-Spiele 2012 gegen das BMI geklagt, sie wollten den Mantel der Verschwiegenheit lüften, der damals über der Sportförderung lag. Klar war bis dahin nur, dass der Bund den Sport mit Millionen fütterte. Wie genau dieser die Mittel dann verteilte, hatte den Steuerzahler nichts anzugehen.

Die Reporter gewannen, und so kam 2012 dann ans Licht, dass der DOSB mit jedem Fachverband vereinbart hatte, wie viele Medaillen und Plätze unter den besten zehn dieser bei Olympia erreichen muss - und wie das zu geschehen hat. Riss der Verband die Latte, drohten Fördermittel im nächsten Olympiazyklus zu versiegen. Wie viel genau gestrichen wird? Darüber richtete, mehr oder weniger autark, der DOSB. Der Bundesrechnungshof, offenbar alarmiert von den Enthüllungen, kam dann nach zwei Jahren Prüfung nicht völlig überraschend zu dem Schluss: So geht das nicht! Die Steuermillionen müssten transparenter und nach klareren Kriterien ausgeschüttet werden.

Das Innenministerium versprach dann rasch, man werde die Sache angehen, es werde kein Stein auf dem anderen bleiben. Drastische Veränderungen, wenn man so will.

Und die kamen.

Die zentrale Idee, die damals entstand, war sogar eine gute. Nicht allein die Ergebnisse der Gegenwart sollten das Maß für die Zukunft sein - denn dieses Vorgehen belohnte die Guten oft noch mehr, während es die Schlechten bestrafte, obwohl diese ja womöglich auch das Potenzial in sich trugen, bald zu den Besseren zu gehören. Man wollte nun lieber Potenziale ausmachen und fördern. In Auftrag gegeben wurde deshalb nun jenes Steuerungsinstrument, das im Konzert der Kürzel mittlerweile eine ebenso fragwürdige Popularität erlangt hat wie Fifa oder GEZ: Potas, kurz für Potenzialanalysesystem.

Ein paar Jährchen und Machtkämpfe zwischen BMI und DOSB später hatte die sogenannte Potas-Kommission ihr Werk dann vollbracht - und eine schlanke Idee in ein Monster mit drei Köpfen, zehn Tentakeln und zwanzig Kneifzangen verwandelt.

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Die Verbände hatten sich fortan durch 13 Haupt- und 36 Unterattribute zu kämpfen, mit 130 Fragen, die die Potas-Kommission auswertete, gewichtete, in drei Oberkategorien bündelte und für jeden einen Prozentwert ausrechnete: Erfolg im vergangenen Olympiazyklus, das Potenzial, das der Nachwuchs für kommende Spiele in sich trage, und - heiß und innig geliebt - das Attribut "Struktur", das die Verbände selbst etwa auf Organisation, Trainingssteuerung und Gesundheitsmanagement abklopfte.

Juliane Seifert, die Staatssekretärin im BMI, bestätigte nun in Berlin den Eindruck, der viele Beteiligte schon beschlich, als Potas vor zwei Jahren das Ranking für die Sommersportverbände ausspuckte: "Derjenige, der die längsten Texte schreibt, der der bessere Bürokrat ist, wird belohnt."

Das erklärt wohl schon in Teilen, warum 2021 die Leichtathleten im Potas-Ranking auf Rang eins landeten, obwohl sie damals bei Großereignissen schon in die Krise geschlittert waren - wohingegen die Basketballer in den Tabellenkeller plumpsten, auf den allerletzten Potas-Rang. Auch ihre Männermannschaft wurde im Detail nicht sonderlich gut bewertet - und führte dann das gesamte System ad absurdum, als sie bei der Weltmeisterschaft in diesem Sommer Gold gewann.

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Der Potsdamer Sportwissenschaftler Urs Granacher, der der Potas-Kommission vorsitzt, verteidigte sich schon früh im Sportausschuss: Das System habe natürlich seine Grenzen, Teamsport sei nicht so leicht mit Individualsport zu vergleichen, Athleten, die im Ausland trainierten, könne man auch nicht so gut erfassen wie jene im Inland und so weiter. Zugleich behauptete die Potas-Kommission in ihren eigenen Aufsätzen, sie messe nach "objektiven, transparenten, sportwissenschaftlichen und sportfachlichen" Kriterien.

Die Bilanz, die Bund und Sport Anfang dieses Jahres zogen, war jedenfalls vernichtend: Sieben Jahre nachdem die Spitzensportreform so richtig angeschoben worden war, ist die Kernsumme, die die Politik dem Spitzensport jedes Jahr überweist, von 150 auf knapp 300 Millionen Euro gewachsen. Die sportlichen Bilanzen lesen sich zugleich immer schlechter. Und viele Athleten klagen, dass man von ihnen im internationalen Vergleich Höchstleistungen erwarte - obwohl sie in Deutschland bloß wie bessere Amateure gefördert würden und nicht selten am Existenzminimum lebten.

Der Sport war dort angekommen, wo er aufgebrochen war.

Der Versuch einer Zähmung

Vor rund einem Monat präsentierten DOSB, BMI, die ebenfalls an der Sportförderung beteiligten Bundesländer sowie Athletenvertreter dann die Reform ihrer Reform, oder zumindest: ein erstes "Kurzkonzept". Es las sich wie der Versuch einer Monsterzähmung. Oder, wie Olaf Tabor sagte, das Unterfangen, einen Tanker in ein "Schnellboot" zu verwandeln.

Die "drastische Veränderung" schien darin auch schon auf: Es soll eine Sportagentur geben, in der ein (noch zu benennender) Vorstand künftig lenkt, wie der Spitzensport in Deutschland gefördert wird. Welcher Verband, ob olympisch, paralympisch oder nicht-olympisch, erhält wie viel Geld? Wie werden die Forschungsinstitute IAT (Institut für Angewandte Trainingswissenschaft) und FES (Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten) alimentiert? Welche der derzeit rund 200 Bundesstützpunkte bestehen künftig noch, welche nicht?

Das sind allesamt Aufgaben, die, wie Tabor einräumte, eigentlich Sport und Politik "über x Jahre als ihre Kernaufgabe" erachtet hatten. Das alles solle nun ausgelagert werden an einen "ganz neuen Player", die Agentur, die womöglich ganz eigene, schärfere Entscheidungen im Sinn habe als DOSB oder BMI. Und wenn man bedenkt, wie erbittert diese beiden etablierten Player bisher oft um jeden Millimeter an Einfluss und Deutungshoheit rangen, um jeden einzelnen Trainingsstandort, der irgendwie wichtig ist für diese Region oder jenen Verband - dann klingt das zunächst wie keine ganz schlechte Idee, so eine überparteiliche Instanz.

Wie auch manch anderer Eckpfeiler: Eine Agentur, das bedeute "Förderung aus einer Hand", heißt es im Kurzkonzept, weniger Beteiligte, weniger Anträge, und Letztere sogar, huch, digital! Potas solle weiterbestehen, aber da werde man noch mal "ganz dolle" rangehen, versprach Juliane Seifert nun in Berlin. Die Agentur soll gewissermaßen ein domestiziertes Monsterchen an die Leine nehmen. Das Struktur-Attribut bei Potas werde "ausgegliedert"; Fördergelder sollen nicht mehr streng an Jahre oder Maßnahmen geknüpft werden; Letzteres wäre eine Änderung, die viele Verbände vehement gefordert hatten.

Ein Sportfördergesetz, von dem Ende 2023 ein Entwurf stehen soll, soll zudem eine Fördersumme festschreiben, die die Agentur künftig verwalten soll - und so verhindern, dass Sport und BMI um Millionen im Bundeshaushalt feilschen müssen wie derzeit. "Bis Ende 2025" soll die Agentur "arbeitsfähig" sein. In einer idealen Welt wäre man dann dort, wo man schon 2016 landen wollte: bei einer schlanken, halbwegs objektiven Förderung, die nicht mehr der Sport mit sich selbst verhandelt.

Mit ihrem Innenministerium Großfinanzier des Spitzensports: Staatssekretärin Juliane Seifert. (Foto: Metodi Popow/Imago)

Allerdings hingen beim grünen Sportabend schon erste Schlechtwetterwolken am Himmel, auf die die MS Sportdeutschland gerade zuschippert. Politik und organisierter Sport haben in die neue, völlig unabhängige Agentur nämlich zwei Steuerungsorgane verpflanzt: einen "Sportfachbeirat", in dem der Sport die Mehrheit hat, zudem einen "Stiftungsbeirat", den die Politik bestimmt. Wie da gewährleistet wird, dass die zwei alten Player beim ersten Streit dem unabhängigen operativen Vorstand nicht doch ins Ruder greifen?

Juliane Seifert sagte in Berlin, wenn man eine Agentur zu 100 Prozent aus Bundesmitteln finanziere, gehe es nicht ohne irgendeine Aufsicht. Man wolle den Vorstand der Agentur aber nicht "einmauern". Johannes Herber, der Geschäftsführer der Athletenvertretung, kleidete seine Zweifel in eine höfliche Frage: "Können wir mit diesen zwei Gremien wirklich gewährleisten, dass der Vorstand seine Arbeit so leisten kann, wie er das soll?"

Erste Antworten scheinen schon im Kurzkonzept auf. Da ist von einer Arbeitsgruppe die Rede, die der neuen, völlig unabhängigen Agentur etwa vorschlagen soll, wie man die Zahl der Bundesstützpunkte "substanziell" reduzieren könne. Auch erscheine es sinnvoll, heißt es da, "mehrere besonders leistungsfähige" Bundesstützpunkte verschiedener Fachverbände zu "Campuslösungen" zusammenzuführen. In etwa so, wie es die Niederländer mit ihrer Leistungsfabrik Papendal tun, wo Athleten aus diversen Verbänden leben und trainieren und wo Ärzte, Biomechaniker und Physiotherapeuten in Laufweite warten. Was aber, wenn eine völlig unabhängige Agentur bald von dem Gedanken beseelt wird, dass solche Campuslösungen vielleicht in den kleinen Niederlanden wirken, aber weniger in einem großen, föderal gegliederten Land, das immer auch von seinen Talentnestern in der Provinz lebte?

Viele offene Fragen

In der Politik, sagte Marcel Emmerich am Dienstag beim grünen Sportabend, diskutiere man ja im Idealfall auch erst über Inhalte und dann übers Personal (woraufhin sein stellvertretender Fraktionschef sanft die Stirn runzelte). Schaut man ins Kurzkonzept der neuen Sportreform, lässt sich jedenfalls weder das eine noch das andere so recht erkennen.

Da ist das große Thema der Trainer, die in Deutschland seit Langem über schlecht dotierte und befristete Verträge klagen und häufig ins Ausland umziehen. Künftig, verspricht die Reform, seien "tarifähnliche Bedingungen zu prüfen" und, immerhin: Gehaltsobergrenzen werde man "streichen" und "leistungs-/erfolgsbezogene Komponenten" gewähren.

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Da sind "materielle Sicherheit" und die "soziale Absicherung", die man Athleten zusätzlich verspricht, die es aber nur vage ins erste Konzept gefunden haben: als "Prüfprozess".

Da ist die Vereinbarkeit von Sport mit Studium und Ausbildung, die zwischen Athleten und Fachverbänden "deutlich verbindlicher umgesetzt werden" müsse, wie es heißt - aber wie?

Da sind Themen, die das Konzept vage streift, die aber massiv das Große im Kleinen berühren: Kooperationen mit Sportvereinen und Kitas, mehr qualifiziertes Personal für Vereine, besser ausgebildete Ehrenamtliche ...

Und da ist das Beispiel der Landesstützpunkte, die viele Talente ausbilden, ehe diese überhaupt an die Dachverbände weitergereicht werden. Die Stützpunkte, fordert das Konzept nun knapp, sollten künftig "verstärkt" darauf achten, Talente zu entwickeln und weiterzureichen, "länderübergreifend", statt "regionale" Interessen zu verfolgen - was wie ein Auftrag klingt, entgegen den eigenen Interessen zu handeln (wobei Landesverbände künftig womöglich dafür belohnt werden könnten, wenn ihre früheren Athleten später an anderen Stützpunkten erfolgreich sind).

Fragt man den Sportwissenschaftler Lutz Thieme nach einer ersten Bilanz - einen, der das Metier von beiden Seiten kennt, als einstiger Präsident des Landessportbunds Rheinland-Pfalz und als Professor der Hochschule Koblenz, Schwerpunkt Verbands- und Vereinsforschung -, dann erkennt er weiterhin vor allem eine "Steuerungsfantasie". Seien es die Stützpunkte oder das heiß geliebte Potas: Es werde nach wie vor versucht, gemeinsame Nenner des Erfolgs zu finden, von Bogenschießen bis zur Rhythmischen Sportgymnastik, wo es schwer gemeinsamen Nenner geben könne. Ein Attribut, sagt Thieme, werde ja dann erst zum Erfolgsattribut, wenn es von der Konkurrenz nicht erkannt oder kopiert werden kann. Eines, das sich also gerade nicht in Potenzialformeln verpacken lässt.

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Das größte Versäumnis sieht Thieme aber woanders, und das ist eines, das schon mindestens so lange durch den organisierten Sport schwirrt wie der Begriff "Spitzensportreform": "Man hat", sagt Thieme, "mit diesem Kurzkonzept einen Erfolgsanspruch formuliert" - Platz fünf bei Sommer-Olympia, Platz drei im Winter, dazu Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften - "ohne zu definieren, welche Ziele unsere Gesellschaft mit der Förderung des Leistungssports verbinden will". Das Konzept unterbreitet zwar ein paar Vorschläge, wie im Gemischtwarenhandel: Wertevermittlung, Vorbildfunktion, Repräsentation der Bundesrepublik, Identitätsstiftung - es räumt aber ein, dass es "in der noch zu führenden Grundsatzdebatte" erst später definieren will, wie es diese Ziele (oder andere?) überhaupt erreichen will.

Als würde man unbedingt Bioprodukte im Sortiment haben wollen, sagt Thieme, "aber wie diese entstanden sind, welche Werte bei der Produktion eingeflossen sind, darüber will man sich erst später unterhalten". Johannes Herber, der Athletenvertreter, räumte in Berlin auch noch einmal den Grund dafür ein: "Das ging leider nicht bei der Zeitschiene." Übersetzt: weil die Regierung die Reform noch in dieser Legislaturperiode durchdrücken will.

Verständlich, sagt Thieme. Zugleich problematisch, weil jedes Ziel im Grunde ein anderes Sportförderkonzept verlange. Man wolle Vorbilder schaffen? "Das hat etwas mit der Persönlichkeit zu tun, aber eben auch mit der Popularität der Sportart", sagt Thieme, und dann lande man ganz schnell bei Teamsportarten und nicht beim Kanufahren oder Rodeln - die aber erst die erwünschten Spitzenplätze im Medaillenspiegel garantieren.

Sieht Versäumnisse bei der neuen Spitzensportreform: Lutz Thieme, Professor an der Hochschule Koblenz, Schwerpunkte Sportmanagement, Vereins- und Verbandsforschung. (Foto: Privat/oh)

Oder der Schutz von Werten, von Integrität: Da sollen die Verbände künftig verstärkt danach bewertet werden, wie gut sie etwa gegen repressive Trainingsmethoden, Doping oder Missbrauch vorgehen. Damit, sagt Thieme, ermögliche man Athleten zwar, dass sie ihr persönliches Maximum abrufen - in manchen Sportarten womöglich aber nicht die Leistungen, die nötig wären, um Medaillen zu gewinnen. Ist man dann aber nicht auch ein guter Botschafter der Bundesrepublik? So richtig findet sich dieser Gedanke (noch) nicht im Kurzkonzept wieder, da ist ja vor allem von Medaillen und Exzellenz die Rede. Wie aber will man das erreichen - und zugleich "die ganze Bandbreite der Sportarten" erhalten, wie die Staatssekretärin Seifert nun in Berlin betonte?

Was die Reform noch auf die lange Bank schiebt, wirkt nur eben schon heute in den Alltag von Familien und jungen Menschen hinein. Wenn die für den Spitzensport Verantwortlichen der Gesellschaft nicht klar darlegen, welchen Spitzensport sie künftig zu fördern gedenken, sagt Lutz Thieme, sei die Gefahr groß, dass sich immer mehr Talente im Zweifel dagegen entscheiden, ihre Jugend einer Idee zu widmen, von der noch immer nicht klar ist, wohin sie eigentlich führt. So könnte die neue Sportreform tatsächlich etwas bewegen, allerdings ganz anders als gedacht.

Thieme sagt: "Dann rückt der Leistungssport aus der Mitte der Gesellschaft heraus."

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