Wie ein Krieger in einer nicht mehr zu gewinnenden Schlacht saß er da, den Helm mit offenem Visier vor sich auf dem Tisch liegend, der Aufgabe nahe. Dann begann der Skirennläufer Thomas Dreßen zu erzählen. Vor einer Woche, sagte er, beim Abfahrts-Weltcup in Wengen, da sei die Entscheidung gereift. "Eigentlich wurde mir in Wengen während der Fahrt schon klar, dass dies womöglich meine letzte Abfahrt ist", erklärte der Mann vom SC Mittenwald. Dann beschloss er, dass der Termin für diesen Ausstand der kommende, also dieser Samstag sein soll, auf der Kitzbüheler Streif. "Danach", sagte Dreßen, "werde ich meine Karriere beenden."
Der deutsche Skiverband verliert den erfolgreichsten Abfahrer seiner Weltcup-Geschichte. Fünf Siege, fünf dritte Plätze und 23 Vermerke unter den besten Zehn in insgesamt 79 Super-G- und Abfahrtsrennen hat Dreßen gesammelt. Nun hört er im besten Skifahreralter von 30 Jahren auf. Nicht weil er den Sport leid ist, sondern weil die Signale seines Körpers zuletzt immer deutlicher wurden. Als halte ihm der ganze Apparat nun ein Stoppschild vor.
Auch sein Trainer sieht einen Punkt erreicht, "wo ich eine gewisse Grenze nicht mehr überschreiten will"
Gefasst habe er den Beschluss am vergangenen Sonntagabend. Seine Frau habe gerade seine kleine Tochter ins Bett gebracht. "Da war ich alleine", sagte Dreßen, da habe er sich seine Siegfahrt von Kitzbühel noch einmal angesehen. "Und da wurde mir klar, das geht nicht mehr, das lässt das Gestell nicht mehr zu." Er sei immer mit dem Anspruch an den Start gegangen, in der Weltspitze konkurrenzfähig zu sein. Diesen Zustand habe er im Anschluss an seine Knorpeloperation im Knie nach den Ski-Weltmeisterschaften 2021 nie mehr wirklich erreicht. "Fürs Hinterhergurken werde ich mein Gestell nicht mehr opfern", sagte Dreßen.

Thomas Dreßen im Interview:"Man hat viel Zeit zum Überlegen: Ist es das Richtige?"
900 Tage Warten auf einen Moment: Vor seinem Comeback spricht Skirennfahrer Thomas Dreßen über mentale Tiefs, Gedanken ans Karriereende - und darüber, dass man sich manchmal eine Schwäche eingestehen muss, um wieder zu erstarken.
Im Saal dieser Pressekonferenz hörte man nur noch das Klicken eines Fotografen, so andächtig ruhig waren die etwa 20 Reporter während Dreßens Worte geworden. "Wir haben so viel zusammen mitgemacht, aber es war eine schöne Zeit, sehr schön", sagte Christian Schwaiger, heute Cheftrainer und zuvor schon als Abfahrtstrainer des deutschen Männerteams ein enger Vertrauter Dreßens, mit gebrochener Stimme, neben ihm sitzend. "Als Trainer hat man ja auch Verantwortung", so Schwaiger. Auch er sei an einen Punkt gelangt, "wo ich eine gewisse Grenze nicht mehr überschreiten will". Dreßens Knie sei "immer weiter kaputt" gegangen.
Thomas Dreßen riss sich sichtlich zusammen. Er saß an diesem Donnerstagnachmittag in einem Hotel in Kirchberg, ein Vorort von Kitzbühel. Genau hier war er vor sechs Jahren Richtung Streif aufgebrochen, am frühen Morgen des 20. Januar 2018. Er galt damals als Außenseiter, ehe er Stunden später die berühmteste Skiabfahrt der Welt gewann, ja, sensationell war das - er war die längste Zeit Außenseiter gewesen. Doch es dauerte nicht lange bis zum ersten großen Rückschlag.

Thomas Dreßen:Bist du deppert!
Ein deutscher Sieger in Kitzbühel? Daran glaubte bis vor wenigen Jahren im DSV fast niemand. Dann kam Thomas Dreßen. Und: Bald ist Olympia.
Beaver Creek, USA, 30. November 2018: Dreßen war gut unterwegs auf der schweren "Birds of Prey"-Piste, als er nach einem Fahrfehler schwer stürzte: Kreuzbandriss, Totalschaden im rechten Knie, auch die Hüfte wurde geschädigt. Aber: Dreßen kämpfte, mit Erfolg. Ein Jahr später kam er ungeahnt stark zurück. Beim Saisonauftakt in Lake Louise holte er prompt seinen dritten Weltcupsieg und ließ bis Saisonende zwei weitere folgen. Doch den Preis für diese Erfolge, den zahlt er bis heute.
Der Unfall von Beaver Creek und die, wie er später einräumte, etwas vorschnelle Rückkehr, entpuppten sich im Nachhinein als Auslöser für einen jahrelangen Kampf, den Dreßen mit und gegen den eigenen Körper führte. Zwischen März 2020 und November, also zweieinhalb Jahre lang, verzichtete er mit Ausnahme der WM-Abfahrt 2021 (Platz 18) auf sämtliche Rennen. Erst wurde er an der Hüfte operiert, dann mehrmals am Knie. Der Körper wehrte sich, Dreßen kämpfte weiter.

Rang zehn bei der Ski-WM in Courchevel vor einem Jahr - nur 0,26 Sekunden entfernt von Bronze - ließ noch mal Hoffnung aufkeimen, dass Dreßen der Version seiner Streif-Siegertage noch einmal nahekommen könnte. Vergangenes Jahr wurde seine Tochter geboren, vor Saisonbeginn sah man ihn vor Lebensfreude, Energie und Optimismus mit sich selbst um die Wette lächeln. Er glaubte noch daran, ganz gewiss.
Aber irgendwann half auch der Glaube nicht mehr. "Es gibt auch ein Leben danach", sagte er am Donnerstag, "ich will mit meinen Kindern Sport treiben und sie aktiv erziehen". Der Kampf, er ist fast vorbei, nur einmal wird er noch seinen Rennhelm aufsetzen. Die erste Abfahrt am Freitag wird er auslassen, aber am Samstag, auf den Tag genau sechs Jahre nach seinem ersten Weltcupsieg an selber Stelle, nimmt er Abschied. Er hätte keinen würdigeren Rahmen wählen können.