Jüngster Sieger eines Kandidatenturniers:Ein 17-Jähriger mischt die Schachwelt auf

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Dommaraju Gukesh gewinnt ein dramatisches Kandidatenturnier und spielt nun um den WM-Titel. Sein Erfolg steht für den Generationenwechsel, der in der Weltspitze des Schachs bevorsteht - und für den neuen Status Indiens als Großmacht des Denksports.

Von Johannes Aumüller

Den größten Moment seiner Karriere erlebt Dommaraju Gukesh nicht am Brett - sondern als Zuschauer. Der junge Inder hat zum Abschluss des Kandidatenturniers in Toronto sein Tagwerk überzeugend vollbracht, ein Unentschieden mit Schwarz, das passt. Aber jetzt muss er noch eine andere Sache tun: Er muss warten. Warten, bis im Spielsaal zwei andere Rivalen fertig sind. Eine Weile schaut er sich die Übertragung dieser "verrückten Partie" an, wie er es nennt, dann kann er es nicht mehr aushalten, sondern unternimmt lieber einen Spaziergang - bis ihm sein Vater die erlösende Nachricht übermittelt. "Das waren die vielleicht stressigsten 15 Minuten des Turniers", sagt Gukesh, und auch wenn er dabei lacht, wirkt es nicht wirklich wie ein Scherz.

Über drei Wochen hat sich in Toronto ein enorm spektakuläres Kandidatenturnier entwickelt. Am Schlusstag können sich noch vier der acht Teilnehmer Hoffnungen auf den Sieg machen, und nun gibt es eine brutale Zuspitzung: Fabiano Caruana und Jan Nepomnjaschtschi sitzen sich gegenüber, zwei der weltweit besten Spieler, und die Lage ist klar: Gewinnt einer der beiden, darf er in ein Stechen mit Gukesh, endet die Partie remis, ist das Turnier vorbei. Und zwischen den beiden spielt sich ein wahres Schachdrama ab. Caruana hat die bessere Position, aber nur noch sehr wenig Zeit, und er übersieht den Zug, der ihm den Sieg einbringt. Einmal, zweimal, dreimal - dann ist es vorbei. Und während Caruana erklärt, er fühle sich "wie ein Idiot", kann Dommaraju Gukesh einen bemerkenswerten Erfolg genießen.

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Kommentar von Johannes Aumüller

Gerade mal 17 Jahre alt ist der Inder aus Chennai, einen so jungen Sieger gab es in der Schachhistorie bei einem Kandidatenturnier noch nie. Nun darf er bald - der genaue Ort und das genaue Datum stehen bisher nicht fest - gegen den Chinesen Ding Liren um den Titel kämpfen. Aber dieser Rekord, der bedeute ihm wenig, gibt Gukesh zu verstehen. "Ich bin einfach nur glücklich, dass ich das Turnier gewonnen habe", sagt er: "Ich freue mich jetzt darauf, das WM-Match zu spielen." Und die Chancen, dass er das Duell gewinnt und Weltmeister wird, sind gut. Denn Ding ist seit fast einem Jahr in einer rätselhaft schlechten Verfassung.

Es ist die vorläufige Krönung einer bemerkenswert steilen Karriere. Schon in jungen Jahren wollten Gukeshs Eltern - der Vater HNO-Arzt, die Mutter Mikrobiologin -, dass ihr Filius mal Sportler wird. Eigentlich präferierten sie Tennis, aber es wurde dann bald Schach. Die Ambitionen blieben unverkennbar: Die Eltern meldeten Gukesh von der Schule ab, der Vater kündigte seinen Job, um sich ganz auf die Karriere des Sohnes zu konzentrieren. Mit gerade mal zwölf Jahren, sieben Monaten und 17 Tagen durfte sich Gukesh Großmeister nennen, und dann ging es weiter im Rekordtempo bergauf.

Zu den jungen Wilden im Schach zählt auch ein 19 Jahre alter deutscher Spieler

Gukesh war der jüngste Spieler, der den Weltranglistenersten und langjährigen Weltmeister Magnus Carlsen bezwang; der jüngste Spieler, der in der Elo-Wertung, die die Stärke von Schachspielern misst, eine Punktzahl von mehr als 2750 erreichte; und dann war er auch noch der Erste, der den indischen Volkshelden Viswanathan Anand an der Spitze der nationalen Schachrangliste ablöste. Dass Gukesh irgendwann mal reif für ein WM-Match sein würde, das glaubten viele; aber dass es so schnell gehen würde, war nun doch verblüffend.

Gleich vier Inder gehören aktuell zur Top 15 der Welt- ausgelöst hat die Entwicklung dieses Landes zur Großmacht im Schach Viswanathan Anand, von 2007 bis 2013 Weltmeister. (Foto: Walter Bieri/dpa)

Dabei ist Gukeshs Erfolg nicht nur für ihn besonders, sondern steht auch exemplarisch für zwei generelle Entwicklungen im Schachsport. Die eine betrifft den Status von Indien. Das bevölkerungsreichste Land der Welt ist inzwischen auch im Schach eine Großmacht. Ausgelöst hat das maßgeblich Viswanathan Anand, von 2007 bis 2013 Weltmeister und inzwischen Vizepräsident beim Schach-Weltverband Fide. Der lenkte damals nicht nur eine große Aufmerksamkeit auf den Sport, sondern zog auch eine Akademie hoch. Inzwischen gibt es im Land viele spezialisierte Ausbildungsstätten und Sponsoren, die junge Schachspieler umfangreich unterstützen. Gleich vier Inder gehören zu den Top 15 der Welt, drei starteten beim Kandidatenturnier in Toronto. Allenfalls die USA können da noch mithalten, China und Russland aktuell nicht.

Zugleich repräsentiert Gukesh eine Gruppe von hochbegabten jungen Wilden, die seit einer Weile dabei sind, die Weltspitze aufzumischen. Seine Landsleute Rameshbabu Praggnanandhaa, 18, und Arjun Erigaisi, 20, zählen dazu, der Irano-Franzose Alireza Firouzja, 20, sowie der Usbeke Nodirbek Abdusattorov, 19 - und auch der Deutsche Vincent Keymer, 19. Sie schicken sich jetzt an, die Generation der über 30-Jährigen um Ding und Caruana herauszufordern - und in der Folge auch den Mann, der zwar nicht mehr Weltmeister sein will, weil ihn das Format anödet, aber immer noch der unbestritten weltbeste Schachspieler ist: der Norweger Magnus Carlsen.

Gukeshs Sieg in Toronto kam nun zwar überraschend, war aber dennoch verdient. Denn auch wenn es am Ende so knapp zuging, so war er über die drei Wochen der stärkste Spieler. Von Anfang an präsentierte er sich in einer erstaunlichen Form, mit einer für einen 17-Jährigen bemerkenswerter Ruhe und Präzision wickelte er die Partien ab, und nur ein einziges Mal patzte er. In der siebten von 14 Runden geriet er gegen Firouzja in eigentlich aussichtsreicher Position in Zeitnot - die Schachprofis müssen die ersten 40 Züge in zwei Stunden absolvieren, ehe sie zusätzliche Bedenkzeit bekommen - und übersah, wie ihn der Gegner mit einer Kombination matt setzte.

Aber als Rückschlag habe er das nicht empfunden, behauptete Gukesh am Ende des Turniers, im Gegenteil. Am Ruhetag nach diesem Malheur habe er das erste Mal richtig gedacht, dass er es schaffen könne: "Diese Niederlage gab mir Extramotivation." Es sollte seine einzige bleiben - und anderthalb Wochen später war der Turniersieg vollbracht.

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