Schach:Ist das die Zukunft des Denksports?

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Magnus Carlsen beim Schachturnier in Weissenhaus: "Ich liebe das Spiel immer noch." (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Spiele im Luxusresort und ausgeloste Aufstellungen der Figuren - der Schachsport experimentiert mit neuen Formaten. Im Zentrum: Magnus Carlsen, der beste Schachspieler der Welt.

Von Saskia Aleythe und Johannes Aumüller

Ein Termin in einem Schloss kann eine illustre Sache sein, aber Magnus Carlsen lässt sich davon nicht beeindrucken. Im Luxusresort Weissenhaus ist das Gespräch geplant, im Billardraum des besagten Schlosses. Die Wände sind dunkel, der Geruch von Qualm hängt in ihnen - beides scheint dem Norweger nicht zu behagen. Als er den Raum betritt, kneift er die Augen zusammen und sucht umgehend die nächste Tür. Es geht also ein Zimmer weiter neben die Kaffeebar, da ist mehr Licht und ein gemütlicher Sessel. Schwungvoll fällt Carlsen in die Polster. Die Worte eines Sprechers vorher lauteten: Länger als fünf Minuten gibt er keine Interviews, "und er hat die Neigung, auch mal abzuhauen". Man kann das positiver ausdrücken und sagen: Magnus Carlsen ist ein Lustmensch.

Mehr als eine Woche hat er jetzt an der deutschen Ostsee verbracht, um sich in einem ungewöhnlichen Schachturnier mit den Besten der Welt zu messen. Der 33-Jährige ist weiter der beste Schachspieler der Welt, will aber nicht mehr Weltmeister sein, weil er die klassischen Strukturen so öde findet. In Weissenhaus spielten sie dagegen "Fischer Random", eine von Ex-Weltmeister Bobby Fischer erfundene Variante, in der die Figuren nicht in der üblichen Formation aufs Brett kommen, sondern die Grundaufstellung ausgelost wird. Das gibt es zwar schon lange, wurde aber stets eher stiefmütterlich behandelt. Nun läuft erstmals ein groß vermarktetes Turnier mit langer Bedenkzeit, der Veranstalter hat sich den Namen "Freestyle-Schach" ausgedacht. Carlsen sagt: "Ich würde mir wünschen, dass es in Zukunft mehr Events wie diese geben würde."

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Kurzfristig angesetzte Events, Partien gegen Amateure, ein intransparenter Weltverband: Der Qualifikationskampf für das Kandidatenturnier gerät zum unwürdigen Schauspiel. Der Schachsport muss aufpassen, dass er den WM-Titel nicht zu sehr in Misskredit bringt.

Kommentar von Johannes Aumüller

In jedem Fall zeigt es, wie viel Bewegung gerade im Schach herrscht. Der Denksport hat aus verschiedenen Gründen bewegte Zeiten hinter sich: Die Corona-Pandemie trieb die Menschen zum (Online-)Spiel, der Netflix-Hit "Damengambit" tat sein Übriges. Aber dauerhafte und dauerhaft erfolgreiche Strukturen entstanden daraus nicht, vor allem nicht für das Spitzenschach mit seinem klassischen Setting, in dem sich zwei Spieler bis zu sechs, sieben Stunden gegenübersitzen. Jetzt wird überall an neuen Formaten gebastelt, nicht zuletzt in Deutschland. An diesem Freitag endet das Weissenhäuser Turnier, bald stehen die Grenke Classic an. Die laufen zwar mit klassischer Aufstellung, aber jeder Spieler hat insgesamt nur rund eine Stunde Bedenkzeit - für Traditionalisten nahezu ein Sprint.

Beim normalen Schach ist vieles vorhersehbar. Fischer-Schach ist vor allem am Anfang abwechslungsreicher

Es ist kein Zufall, dass Carlsen dabei so eine zentrale Rolle zukommt. Der Norweger ist weiter die Galionsfigur seines Sports - auch wenn er vor dem letzten WM-Kampf seinen Titel niederlegte. "Ich denke, es gibt viele Menschen, die ein bisschen traurig sind, dass ich die WM nicht mehr spiele", sagt er. Das Format der WM ist ihm mittlerweile zuwider, er hat die Motivation verloren. "Du hast viel Zeit zu überlegen und kannst Perfektion anstreben. Wenn ich es spiele, mag ich es, aber alles drumherum langweilt mich, die viele Zeit mit Schachtheorie", sagt er. Man darf das aber nicht missverstehen: Die Lust am Schach generell ist ihm nicht vergangen. "Ich liebe das Spiel immer noch."

Das kann man in der Tat seit Jahren sehen. Blitzschach, Schnellschach, die Varianten mit kurzen Bedenkzeiten von nur wenigen Minuten, die pflegt Carlsen mit großer Leidenschaft. Und nun hat es ihn also zum Freestyle-Schach gezogen, weil es aus seiner Sicht mehr Spannung verspricht. "Ich denke, das hier ist noch eine ursprünglichere Form von Schach", sagt er. Beim normalen Schach ist zu Partiebeginn vieles von den klassischen Eröffnungen und Eröffnungstheorien geprägt; bestimmte Zugfolgen kamen in Tausenden Partien aufs Brett und sind zudem am Computer sehr gut vorbereitet.

Beim Fischer- und Freestyle-Schach, wo es 960 mögliche Grundaufstellungen gibt, ist das anders. Da müssen die Spieler am Brett mehr denken und kalkulieren, kommt es zudem stärker auf Intuition an, entsteht mehr Spannung und Abwechslung. Wenn es in der Vergangenheit Fischer-Turniere gab, dann eher solche mit knapper Bedenkzeit, was eigentlich widersinnig ist, weil man dabei zum Beginn einer Partie doch viel mehr sinnieren muss als beim klassischen Schach. In Weissenhaus probierten sie es nun mit langer Bedenkzeit, dadurch wird eine höhere Qualität der Züge ermöglicht - und das Ganze "aufregender für die Spieler", wie Carlsen findet. "Du musst deinen Kopf wirklich benutzen. Ich denke, es ist anstrengender als normales Schach", sagt er. Aber: "Hart arbeiten zu können, sollte ein Privileg sein, keine Bürde."

Mit dem Weltverband Fide hat sich Carlsen viele Jahre gestritten

Der Norweger ist nicht der einzige Spieler, der dem Freestyle-Schach etwas abgewinnen kann; auch der Weltmeister Ding Liren ist in Weissenhaus dabei, ebenso der deutsche Spitzenspieler Vincent Keymer und fünf andere Weltklasseakteure. Manch einer glaubt gar, dass diese Art von Schach mittelfristig das klassische Schach ablösen kann. Das Turnier in Weissenhaus mag eine Sonderstellung haben, weil der Besitzer des Resorts und Multimillionär Jan Henric Buettner mit der Wahl der Spielstätte und einem siebenstelligen Budget auch durch das Drumherum für ein ungewöhnliches Ambiente sorgt. Aber es geht auch generell um die Frage, ob und wie weit sich ein Sport weiterentwickeln kann, um attraktiv zu sein.

"Ich denke, die Schachwelt generell ist sehr konservativ eingestellt. Das schränkt sie offensichtlich ein", sagt Magnus Carlsen. Dass man als Weltverband den bekanntesten Mann aus seinen Reihen verliert, ist ein Fiasko. Ob sich die internationale Schach-Föderation Fide zu verschlossen gegenüber Neuerungen gibt? Carlsen lächelt, er hat sich einige Jahre lang mit der Fide gestritten. "Ein Vorteil davon, dass ich die WM nicht mehr spiele, ist, dass ich mich an solchen Diskussionen nicht mehr beteiligen muss. Das liegt jetzt wirklich bei ihnen", sagt er.

Carlsen ist nicht nur Sportler, sondern auch Unternehmer

Carlsen ist nicht nur als Sportler unterwegs. Vor ein paar Jahren hat er ein eigenes Imperium als Mitgründer der Play Magnus Group geschaffen, die Schach-Apps und virtuelle Trainingsprogramme aufgebaut hat sowie eine Online-Turnierserie. Nach einem Schach-Hype zur Pandemie ging die Gruppe Ende 2022 im Konkurrenten chess.com auf. Mit Vermarktung beschäftigt sich Carlsen nach eigenen Worten seit ein paar Jahren nicht mehr, aber er weiß trotzdem, was für seinen Sport wichtig ist: "Das Beste, was ich für das Schach tun kann, ist, zu spielen." Oder, in anderen Worten: Die beste Werbung ist er.

Vor ein paar Wochen hat Carlsen bei einem Werbedreh für einen gemeinsamen Sponsor mit Pep Guardiola zusammengesessen. Zwei Größen ihres Sports, aber mit der Vermarktung hat es der Fußball dann einfacher als der Durchschnitts-Schachspieler. Als Kind hat Carlsen selber viel Fußball gespielt und seine Sympathien auch über all die Jahre nicht verloren. "Wenn du mich fragen würdest, ob ich eine Saison für Real Madrid spielen möchte, würde ich das Angebot annehmen", sagt er. "Aber ich bin sehr froh, wie alles gekommen ist." Zumal, wenn er die Regeln seines Sports selbst mitbestimmen kann.

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