Zu Beginn der vergangenen Saison kamen Jonas Klitzka und seine Kollegen auf eine Idee, von der keiner wusste, was aus ihr werden würde. Zuerst stellten sie Stühle in die Räumlichkeiten des Apollo, einer Eventlocation in Bremerhaven. Danach wurden die roten Backsteinwände mit Fanschals und Trikots dekoriert. Dann zogen sie die Vorhänge zu und ließen den Beamer keine Kussszenen aus Hollywood mehr an die Leinwand projizieren, das Programm war fortan eine beinahe kitschige Erfolgsgeschichte im Eishockey. Das ehemalige Kino wird bei Spielen der Fischtown Pinguins nun zum Public-Viewing-Saal umfunktioniert. Und während Jonas Klitzka das alles erzählt, muss er aus dem Nebenraum geschwind in den Hauptsaal eilen: den Sound aufdrehen.
Die Hymne der Pinguins dröhnt durch die Boxen, das will schließlich zelebriert werden. Und es ist längst ein kleines Ritual an diesem Ort, an dem sonst Hochzeiten, Geburtstage oder Grünkohlpartys stattfinden: Hoch im Norden, weht ein rauer Wind / Wo wir zu Hause sind. Die Liedzeilen gehen den 350 Besuchern im Saal in einer Mischung aus Ergriffenheit und Verwunderung von den Lippen, denn am Freitagabend vor einer Woche sind alle noch überwältigt von ihrem Verein. Das dürfte das Publikum im Apollo gemeinsam haben mit den ebenfalls 1000 Public-Viewing-Zuschauern in der Bremerhavener Eishalle, der Heimspielstätte der Pinguins, und weiteren 1000 Fans, die für das zweite Spiel der DEL-Finalserie in Bussen nach Berlin gefahren worden sind. Und dazu all jene, die sich andernorts zum Eishockey-Gucken versammeln: Wahrscheinlich fast die ganze Stadt, Bremerhaven hat etwa 113 000 Einwohner.
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Die Pinguins werden das Spiel 3:5 verlieren, Spiel drei 1:2, Spiel vier 1:4. Beim Erfolg im ersten Heimspiel in Bremerhaven haben die Pinguins aber gezeigt, dass sie den Eisbären, den großen und deutlich finanzstärkeren Favoriten, ein gewaltiges Ärgernis sein können. An diesem Freitag (19.30 Uhr) geht es für die Bremerhavener nun vor eigenem Publikum darum, den Berliner Matchball zur deutschen Meisterschaft abzuwehren. Wird schwierig, aber mit unmöglich erscheinenden Aufgabenstellungen kennen sie sich hier ja aus: Vor einigen Jahren wirkte Erstliga-Eishockey utopisch, nun sind sie bis ins Finale gerauscht. Seitdem gehört der Ausnahmezustand zum gewöhnlichen Erscheinungsbild dieser Stadt, die es oft nur in die Schlagzeilen schafft, wenn mal wieder was nicht läuft. Bremerhaven hat einen miesen Ruf - und die Bremerhavener wissen das.
"Hier ist was ins Rutschen gekommen", sagt Eventmanager Klitzka
Jonas Klitzka schließt hinter sich die Tür, ein paar Dezibel Lautstärke bleiben draußen. Klitzka ist gebürtiger Bremerhavener, nur fünf seiner 37 Lebensjahre hat er außerhalb der Stadtgrenzen verbracht. Im Apollo, wo er als Eventmanager arbeitet, würde man wohl Pinguins-Fans finden, die alle Scorerlisten der vergangenen Jahre noch etwas sicherer herunterbeten können. Wer aber die Wirkung dieses Vereins in dieser Stadt verstehen will, ist bei einem wie Klitzka richtig: "Fischtown begeistert durch alle Zielgruppen", sagt er. "Überall hängen Flaggen, jedes zweite Gespräch dreht sich um Eishockey, du kannst dich nicht entziehen. Wahrscheinlich auch, weil alle merken: Endlich interessieren sich Leute von außerhalb für Bremerhaven, weil hier Positives passiert."
In der Tat: Das Eishockey bot zuletzt einen gewaltigen Kontrast zu jener Stadt, in der es gespielt wurde. Bremerhaven gilt als das Armenhaus der Republik, der Spiegel schrieb mal über den "Osten des Westens". Alles nicht sehr nett, finden Stadtbewohner wie Jonas Klitzka. Aber was nicht nett ist, ist deshalb noch lange nicht falsch. Oder? "Hier gibt es Probleme", sagt er, für ihn ist Bremerhaven eine Stadt "der ungenutzten Potenziale". Aus wenig viel machen - dafür hätte man ja einen Referenzpunkt in der Stadt, die Pinguins.
Auch im Apollo, längst eine Institution für Eishockeyfans, sehen das einige so: Eine Erfolgsgeschichte könne dieser Stadt, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Niederlagen erlebt hat, nicht schaden, glauben die Pinguins-Fans. Einer sagt: "Wir sind gewohnt, dass alles weniger wird. Fischtown beweist, dass es auch anders geht." Eventmanager Klitzka zum Beispiel hatte lange wenig am Hut mit Eishockey, doch mit dieser Sportgeschichte müsse man ja sympathisieren: "Hier ist was ins Rutschen gekommen."
Wenn die deutschen Handballer überzeugen, wird gefragt, was die Fußballer von ihnen lernen können; wenn die Fußball-Nationalmannschaft in der WM-Vorrunde rausfliegt, muss sie als Symbol für den Niedergang des Landes herhalten. Analogien rund um den Sport sind immer wackelige Konstruktionen. Aber ist es denn ausgeschlossen, dass ein DEL-Finalist zumindest symbolisch vorangeht in einer Stadt, die sonst angeblich nur hinterherhinkt? Und: Ist es in Bremerhaven wirklich so schlimm, wie alle immer meinen?
Am Nachmittag vor dem Abstecher ins Apollo. Oberbürgermeister Melf Grantz (SPD) empfängt in seinem Büro. Grantz, seit 2011 im Amt, hat Volumen in der Stimme und eine klare Mission an diesem Tag: Kontext liefern, mit dem einen oder anderen Vorurteil aufräumen, ohne dabei Probleme kleinzureden. Und die gibt es zuhauf: Im Januar lag die Arbeitslosenquote bei 14,7 Prozent, Kinderarmut, geringe Wachstumsprognosen, Schulden, Wohnungsleerstand - überhaupt führt Bremerhaven einige Statistiken an, deren Spitzenplätze jeder lieber meiden würde. Dabei war Bremerhaven mal ein echter Leuchtturm: Industrie, Werften, Schifffahrt, hier ging richtig was voran.
Grantz möchte Bremerhaven als Wissenschaftsstandort etablieren, den Tourismus und Offshore-Energien fördern. Nur sei "Strukturwandel eben ein lang andauernder Prozess", erklärt Grantz. Und noch dazu ist Bremerhaven eine Stadt mit strukturellen Tücken. Denn das kleine Bundesland Bremen ist komplizierter als die anderen Stadtstaaten Hamburg und Berlin. Bremen ist ein Zwei-Städte-Staat, bestehend eben aus der Stadt Bremen und, etwa 70 Kilometer weserabwärts, dem viel kleineren Bremerhaven.
Dieses wiederum ist umgeben von einer ganzen Menge Niedersachsen, und das ist schon ein Teil des Problems: Mehr als 50 Prozent der Arbeitsplätze in Bremerhaven sind an Pendler aus dem niedersächsischen Umland vergeben, dort zahlen sie auch Steuern - Bremerhaven, wo das Geld erwirtschaftet wird, geht leer aus. "Eine schwierige Gemengelage", sagt Grantz, die wesentlich zum negativen Bremerhaven-Bild beitrage: "Deswegen ist es für uns als Politik schwierig, die Leute so mitzunehmen, wie es die Pinguins gerade tun. Auch unter diesem Lichte betrachtet ist der Erfolg der Pinguins fantastisch: Das passiert jetzt, vor aller Augen - und das schafft Zuversicht."
Früher gab es nur Werder und Bremen. "Jetzt können wir die Nasen mal etwas höher tragen", sagt der Oberbürgermeister
Grantz, so war das verabredet, macht sich nun auf den Weg zur Eishalle Bremerhaven, die von der Stadt bezahlt wurde. Das Fundament für Spitzeneishockey hatte sich aus Sicht der Lokalmedien zwischenzeitlich zum "Kosten-Drama" ausgewachsen, 19 Millionen Euro hat die Halle gekostet. Eine Investition, die sich gelohnt habe, sagt Grantz, denn: "Der Verein ist Marketing für die Stadt. Die Pinguins sind für uns das, was Werder für Bremen ist."
Von den Mitarbeitern in der Halle wird er jedenfalls freundlich empfangen, ein Handschlag hier, ein Schwätzchen da. Einigen Fans beim Public Viewing im Apollo fällt interessanterweise ebenfalls sofort der Vergleich mit Bremen ein, wenn sie die Bedeutung der Pinguins für Bremerhaven erklären wollen; dabei hatte man sich sonst nur im Schatten der früheren Europapokalfußballer von Werder bewegt. Und auch so war Bremerhaven innerhalb seines kleinen, als ärmlich geltenden Stadtstaats immer nur die Nummer zwei gewesen. "Jetzt können wir die Nasen mal etwas höher tragen", sagt Oberbürgermeister Grantz und lehnt sich gegen die Werbebande vor dem Eis. Grantz grinst, er meint das gar nicht ketzerisch. Und er hat ja recht: Eine echte Chance auf eine deutsche Meisterschaft, wann hat es das in Bremen zuletzt gegeben?
Aus Sicht von Jonas Klitzka, dem Eventmanager des Apollo, hat die Stadt zwar noch lang keine echte Siegermentalität entwickelt, aber wenigstens das Nach-vorn-Schauen gelernt. Sein Leben lang hat er Bremerhaven in einer "Abwärtsspirale" verortet. Doch jüngst hat er eben auch mitbekommen, wie sich vor den Ticketschaltern Hunderte Meter lange Schlangen gebildet haben, die Ersten hatten sich mit Campingstühlen mitten in der Nacht angestellt. So hat sich der sonst so defätistische Grundsound der Stadt verändert. Fernsehteams, Reporter und Teile eines Landes schauen tatsächlich nach Bremerhaven, weil etwas klappt, und das sogar richtig, richtig gut.
Noch ist es nicht vorbei: Ein Sieg der Pinguins an diesem Freitag, dann wird die Finalserie um ein Spiel verlängert. Und wer weiß, vielleicht danach ja um ein weiteres? Und selbst wenn nicht: Die nächste DEL-Saison startet Mitte September - und Bremerhaven ist dabei.