Neuer Report zum Staatsdoping:Instant-Kaffee in der Doping-Probe

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Die olympische und die russische Fahne bei den Spielen in Sotschi. (Foto: Getty Images)
  • Der zweite Teil des McLaren-Reports schildert, wie Russland im großen Stil und über einen längeren Zeitraum Doping-Proben manipulierte.
  • Über 1000 Sportler sollen in das System involviert gewesen sein, auch viele Medaillengewinner bei olympischen und paralympischen Spielen.
  • Das Internationale Olympische Komitee (IOC) spricht in einer ersten Stellungnahme von einem "fundamentaler Angriff auf die Integrität der Olympischen Spiele und des Sports im Generellen."

Von Johannes Aumüller und René Hofmann

Mitunter musste es schnell gehen mit dem Betrug. Um das spezifische Gewicht einer manipulierten Urinprobe in einen Bereich zu bringen, in dem die Schummelei nicht schon auf den ersten Blick aufflog, griffen die Konspirateure bisweilen zu ungewöhnlichen Mitteln: Sie schütteten Instant- Kaffee in die zuvor heimlich aufgehebelten Fläschchen. Manchmal aber reichte die Sorgfalt beim Verschleiern des Betrugs nicht einmal mehr so weit. In den Urinproben, die zwei russische Eishockeyspielerinnen 2014 bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi abgaben, wurde nun - bei Nachtests - eindeutig männliche DNA gefunden. Weil das kaum sein kann, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, liegt der Verdacht nah, dass die Proben nachträglich vertauscht wurden. Und so werden die beiden Schlägerschwingerinnen auf einer illustren Liste geführt, die der kanadische Anwalt Richard McLaren an diesem Freitag im noblen St. Pancras Renaissance Hotel in London verlas.

In den Jahren 2011 bis 2015 sollen demnach mehr als 1000 Athleten von dem Staatsdopingprogramm profitiert haben, das in Russland nach der Enttäuschung bei den Winterspielen 2010 in Vancouver initiiert worden war, referierte McLaren. Dies beträfe Sommer- und Wintersportler sowie auch paralympische Athleten. Damit vertiefte McLaren die Ergebnisse seines ersten Reportes, den er im Auftrag der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) erstellt und am 18. Juli 2016 nach nicht einmal 80 Tagen Recherche vorgelegt hatte. In der Zwischenzeit haben McLaren und sein Team neues Material ausgewertet und weitere Zeugen befragt. Unter anderem frästen sie sich durch viele Mails und exakt 4317 Excel-Dateien. Nach der mühevollen Detailarbeit erhebt McLaren eine scharfe Anklage gegen Russland: "Die Sehnsucht nach Medaillen war stärker als der kollektive moralische Kompass und die olympischen Werte des Fairplay."

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McLaren ist sich sicher: Sechs russische Sportler, die bei den Paralympics in Sotschi zusammen 21 Medaillen gewannen, haben betrogen. Bei den Winterspielen am selben Ort wurden die Dopingproben von mindestens zwölf russischen Medaillengewinnern manipuliert, unter ihnen vier, die Gold gewannen. Bei der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau spielten mindestens vier russische Sportler falsch, bei den Sommerspielen 2012 in London mindestens 15 Russen, die Medaillen gewannen. "Das russische Team hat die Spiele von London in einer nie da gewesenen Weise korrumpiert", behauptet McLaren. Mindestens von 2011 bis 2015 habe es in dem Land eine "institutionelle Verschwörung" gegeben, die vom russischen Sportministerium gelenkt worden sei und an der - unter anderem - die nationale Anti-Doping-Agentur Rusada, das Anti-Doping-Labor in Moskau und sogar der Inlandsgeheimdienst FSB beteiligt gewesen seien.

Das Muster des Betrugs habe so ausgesehen: Zunächst seien Sportler ausgewählt worden, die bei internationalen Wettkämpfen als potenzielle Medaillengewinner gelten konnten. Diesen wurde dann ein Doping-Cocktail verabreicht, der vom Leiter des Anti-Doping-Labors in Russland entwickelt worden war. Die zentrale Dopingvergabe sollte den Wildwuchs eindämmen, der zuvor geherrscht hatte, als viele Trainer offenbar wahllos Mittelchen gekauft und diesen ihren Sportlern verabreicht hatten.

Unter dem neuen Regime galt laut McLaren: Wenn im Anti-Doping-Labor in Moskau eine verräterische A-Probe eines Sportlers ankam, der nicht auffliegen sollte, sei diese verschwiegen und der Wada ein falsches - nämlich unauffälliges - Ergebnis übermittelt worden. Als die Welt-Anti-Doping-Agentur das Moskauer Labor im September 2012 aufforderte, 67 Proben zu Nachtests in das Labor nach Lausanne zu überstellen, sei Hektik ausgebrochen. Die Verantwortlichen des Betrugsprogrammes hätten realisiert, dass ihre Täuschungskette nicht lückenlos war: Anhand der B-Proben ließ sich der Betrug stets rekonstruieren.

Um diese Lücke zu schließen, habe der Geheimdienst im Februar 2013 eine Methode entwickelt, wie die Fläschchen, in denen A- und B-Proben gesammelt wurden, aufzuhebeln sind. In Sotschi seien dann jede Nacht Proben russischer Sportler durch ein Loch in der Wand des Testlabors in eine Nebenkammer gereicht worden. Dort sei deren schmutziger Urin gegen garantiert unverdächtigen getauscht worden, den die Kadersportler lange im Voraus abgegeben hatten.

Die Geschichte klingt wie eine Räuberpistole, aber McLaren hat erstaunliche Details parat, die seine Version stützen. So hat er die Anforderungen gefunden, die der Geheimdienst für die Werkzeuge formulierte, mit denen die Fläschchen geöffnet wurden. Am besten seien Metallstäbchen, hieß es da, flexibel genug, um sie unter die Deckel zu schieben, aber doch auch stabil genug, um Druck aufzubauen. An vielen Dopingproben, die in Sotschi von russischen Athleten gesammelt wurden und die noch vorhanden sind, fanden sich Kratzer, die nahelegen, dass derlei Stäbchen tatsächlich zum Einsatz kamen. Bilder davon hat McLaren zusammen mit fast 1200 weiteren Dokumenten wie forensischen Berichten oder E-Mails im Internet veröffentlicht, um sich gegen Anwürfe zu wappnen (www.sz.de/mclaren). "Für alles, was ich sage, gibt es Beweise", sagte er am Freitag in London.

Aus seiner Sicht war der Betrug systematisch und konsequent. Wenn die Wada ihre Vorschriften veränderte, reagierten die Betrüger. Über die Jahre wurde der Unterschleif perfektioniert. Auch hier kann McLaren Details nennen: Am Anfang sei der garantiert saubere Urin noch in leeren Cola-Flaschen oder nicht mehr benutzten Baby-Fläschchen eingesammelt worden. Mit der Zeit reifte dann das Bewusstsein, dass das vielleicht doch nicht professionell genug sei; dann kamen die für Urinproben üblichen Behälter zum Einsatz. McLaren ist sich sicher: "Das Austauschen von Dopingproben hat nicht mit der Schlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi aufgehört."

Der Chefermittler räumte ein, dass das Bild "noch nicht komplett" sei. Im Moment könne niemand sagen, "wie tief und wie weit zurück" der Betrug wirklich gereicht habe. In seiner mehr als sechsmonatigen Arbeit sei er nicht an alle Datensätze oder notwendigen Zeugen herangekommen. So wurde ihm kein Zugriff auf den Server des Anti-Doping-Labors in Moskau gewährt. Auch eine Befragung des langjährigen Sportministers Witali Mutko, einer Schlüsselfigur der Affäre, kam nicht zustande. Der inzwischen zum Vize-Premier aufgestiegene Funktionär und McLaren seien leider nicht in der Lage gewesen, einen geeigneten Termin zu finden, heißt es auf Seite 15 des schriftlichen Berichtes, der insgesamt 144 Seiten füllt.

McLarens Report rief sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. "Die neuen Fakten des Abschlussberichtes machen uns sprachlos", sagte Andrea Gotzmann, Vorstandschefin der deutschen Anti-Doping-Agentur Nada. Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) erklärte, die Ergebnisse "treffen direkt in das Herz von Integrität und Ethik des Sports". Michael Vesper, der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Olympischen Sportbundes, sprach von einem "Hammer". Aus Russland hingegen kam zunächst nur Häme. "Bis jetzt hat McLaren über Doping in Russland nichts Neues gesagt. Irgendwelche ,1000 Sportler', wo sind die Beweise und die Zeugen?", sagte Michail Degtjarjow, Chef des Sportausschusses in der Duma. Russlands Rodel-Chefin Natalia Gart ergänzte: "Das ist nichts als Müll." Ähnlich äußerte sich auch die ehemalige Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa, die nun als Aufsichtsratschefin der russischen Anti-Doping-Agentur wirkt. "Es ist immer sehr einfach, Schuldige und Unschuldige in einen Topf zu werfen. Ich bezweifle, dass uns konkrete Beweise für eine Schuld gezeigt werden können, wenn wir darum bitten", sagte sie. Es ist nun die Frage, wie der organisierte Sport auf die neuerlichen Enthüllungen reagiert. Unter anderem der deutsche Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop und die Sportausschuss-Vorsitzende Dagmar Freitag forderten einen sofortigen Ausschluss Russlands von allen internationalen Wettbewerben.

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Die Namen der Sportler, die nun nachträglich überführt wurden, werden in McLarens Bericht nicht genannt. Sie liegen allerdings der Wada und den internationalen Sportverbänden vor. Es sei nun an diesen Institutionen, den Fällen nachzugehen, sagte McLaren. Der Leichtathletik-Weltverband teilte mit, er habe bereits 53 Prozent der entlarvten russischen Sportler sanktioniert oder gegen sie Verfahren eingeleitet. Das Internationale Olympische Komitee will alle eingelagerten Dopingproben russischer Athleten von den Spielen 2012 und 2014 nachtesten lassen. In einer ersten Stellungnahme sprach IOC-Präsident Thomas Bach von einem "fundamentalen Angriff auf die Integrität der Olympischen Spiele und des Sports im Generellen". Jeder Athlet oder jeder Offizielle, der sich aktiv an einem solchen Manipulationssystem beteiligt habe, sollte lebenslang von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden, sagte er.

Ob es so weit aber wirklich kommt? An einigen Stellen wirkt McLarens zweiter Report vorsichtiger als sein erster. Das fällt vor allem an den Stellen auf, an denen es um das Nationale Olympische Komitee Russlands geht, das ROK. Für Bach war dieses Gremium im Sommer das entscheidende Argument, um Russland nicht komplett von den Spielen in Rio auszuschließen. Bachs Argumentation: Es gebe keine Beweise, dass das ROK in das Dopingsystem involviert gewesen sei. Deshalb sollten die internationalen Fachverbände entscheiden, welche russischen Sportler auszuschließen seien. Über diesen Weg fanden letztlich doch fast 300 Russen den Weg nach in Rio. Das war aber eine mutige Zusammenfassung von Bach, weil der Report darlegte, wie zwei ROK-Mitglieder in das System verstrickt waren, unter anderem der stellvertretende Sportminister Juri Nagornych. Bei der Präsentation seines zweiten Berichtes beteuerte McLaren allerdings sogar auf Nachfragen: Für eine Verstrickung des ROK gebe es "keine Beweise". Insofern können Thomas Bach und seine Unterstützer nun die Argumentation fortsetzen, mit der sie Russland schon den Weg zu den Spielen nach Rio ebneten.

Bemerkenswert waren auch die Einlassungen McLarens zu Russlands mächtigstem Sportfunktionär Witali Mutko. Der war lange Jahre Sportminister, inzwischen ist er zum Vize-Premier aufgerückt. Außerdem sitzt er im Fußball-Weltverband Fifa und führt er das Organisationskomitee für die Fußball-WM 2018, Russlands großes Prestigeprojekt. Noch in seinem ersten Report dokumentierte McLaren eine Mail, aus der sich der klare Verdacht ergab, dass Mutko selbst die Vertuschung einer Positivprobe in Auftrag gegeben habe. Dieses Dokument fehlt nun, stattdessen heißt es von McLaren, es gebe für eine Verstrickung von Mutko "keine direkten Beweise".

Allerdings schreibt der Aufklärer an anderer Stelle, dass das Manipulationssystem mitsamt den vielen vertuschten Positivbefunden unter der Führung von Sportminister Mutko und seinem Stellvertreter Nagornych betrieben worden sei. Dafür dürften sich nun auch die Ethiker des Weltverbandes Fifa interessieren, in dessen Vorstand Mutko sitzt.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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