Leichtathletik:Schmerz lass nach

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Herber Rückschlag: Malaika Mihambo verpasst die WM in Budapest wegen eines Muskelfaserrisses. (Foto: Axel Kohring/Beautiful Sports/Imago)

Die Liste der verletzten deutschen Leichtathleten vor der WM in Budapest ist alarmierend lang. Dabei zeigt sich: Manche Systeme, die der Verband als Gegenmittel preist, sind in der Praxis bedingt tauglich.

Von Johannes Knuth

Als der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) vor Kurzem sein Aufgebot für die Weltmeisterschaften in Budapest vorstellte, wusste man nicht so recht, welche Auswahl illustrer besetzt ist: das Team, das ab dem 19. August in Ungarn antreten soll - oder jenes Ensemble an Leistungsträgern, das die WM verpassen wird, im Krankenstand.

Ein Auszug: Weitspringerin Malaika Mihambo, die aktuelle Olympiasiegerin und Weltmeisterin; Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre, der aktuelle EM-Zweite; Hindernisläuferin Lea Meyer, ebenfalls EM-Zweite in München; Speerwerfer Andreas Hofmann, der EM-Zweite von 2018; Hochspringer Mateusz Przybylko, Europameister 2018; Mittelstrecklerin Hanna Klein, zuletzt Europameisterin in der Halle; Speerwerferin Annika-Marie Fuchs, einst Europameisterin im Nachwuchs; die Sprinterinnen Lisa Mayer, Jessica-Bianca Wessolly und Alexandra Burghardt, alle vielfach prämiert mit diversen Staffeln; die deutschen Meister Owen Ansah, Torben Blech, Jonas Wagner, Elena Burkard, Neele Eckardt-Noack, Laura Müller, Robert Farken; die Speerwurf-Olympiasieger und Weltmeister Thomas Röhler und Johannes Vetter, die zwar nicht mehr verletzt, nach langen Auszeiten aber weit entfernt sind von alter Schaffenskraft ...

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Nun haben all die gerissenen Kreuzbänder, Sehnen und Muskelfasern, all die Schäden an Menisken, Muskeln und Knochen vielfältige Ursachen. Verschleiß nach Jahren in der Hochleistungsmühle. Kaum vermeidbare Unfälle. Vermeidbare Unfälle ( Robert Harting, der sich mal einen Hexenschuss zuzog, weil er mit dem Fuß den Lichtschalter bediente, lässt grüßen). Immer mehr Höhepunkte im Kalender. Verletzungen, die durch frühere Pausen oder bessere Kraftübungen hätten vermieden werden können. Unbestritten ist, dass die Ausfallrate viel zu hoch ist, und so ist schon jetzt klar, dass die deutschen Leichtathleten auch in Budapest ihr Potenzial nicht ausschöpfen werden, ein Jahr nach der schlechtesten WM in der Geschichte des DLV.

In das neue System steckte der Verband offenbar einiges auf Aufwand und Geld

Das ist wiederum spannend, weil der Verband bis zuletzt ausdauernd betonte, wie umfassend er das Problem mit den Verletzungen angehe - und wie erfolgreich er dabei sei, vor allem dank eines funkelnagelneuen, appbasierten Systems. Aber wie das so ist: Schein und Sein wollen auch bei dieser Erzählung irgendwie nicht so ganz zusammenpassen.

Rund um die WM 2019 in Doha sprach Idriss Gonschinska - damals Generaldirektor, heute Vorstandsvorsitzender im DLV - bereits öffentlich von einem digitalen System, das künftig Verletzungen von Kaderathleten eindämmen sollte. Dafür ließ der Verband offenbar einiges an Aufwand und Geld fließen. Er listet bis heute auf seiner Homepage vier Ansprechpartner für das Projekt auf. Zwei Stellen sollen dem Vernehmen nach eigens dafür geschaffen worden sein. (Der DLV schreibt auf Anfrage nur, dass das Monitoring "Teil eines wissenschaftlichen Begleitprojekts im DLV" war, neben den Betriebskosten entstünden "keine zusätzlichen finanziellen Aufwände.") Im November 2019 präsentierte der DLV das System dann stolz auf seiner Homepage: "Athleten-Monitoring reduziert Ausfallrate im Spitzensport", hieß es da.

Die Idee klang gut. Jeder Athlet wird mit einem Fitnesstracker und einer App ausgestattet. Er misst über Nacht den Ruhepuls, am nächsten Morgen füttert er die App zudem mit Antworten zum Wohlbefinden, alles auf einer Skala. Kurz darauf spuckt die App ein Urteil aus: Ist der Körper noch frisch genug für das harte Training, das sich der Kopf für den Tag vorgenommen hat? In einem Sport, in dem einem in der Regel kein Gegner auf den Knöchel steigt, berührt das den Kern allen Schaffens. Verletzt sein oder nicht, das liegt in erster Linie in der Hand von Athleten und Trainern.

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Ein schöner Nebeneffekt: Solch ein System warf offenbar auch Punkte im Potas-Ranking zur Verteilung der Fördergelder ab

Die App, führte der DLV weiter aus, könne auch mit alten und aktuellen Verletzungsbefunden versorgt werden. Auf dieses Register hätten dann alle vom Athleten autorisierten Betreuer Zugriff, in Sekundenschnelle: Vereinstrainer, Bundestrainer, Ärzte im DLV. So entstehe ein umfassendes Bild, ließen sich Verletzungen und Ausfallzeiten minimieren. Viele Mannschaften im US-Profisport nutzten bereits ähnliche Programme, auch Olympiasportler in Norwegen etwa, wo man mit den Verantwortlichen eng kooperiert habe. In Deutschland, schrieb der DLV, sei man Vorreiter.

Und noch ein schöner Nebeneffekt: Solch ein System warf offenbar auch Punkte im Potas-Ranking ab - jenem mittlerweile schwer umstrittenen Analysesystem, mit dem der Bund in Deutschland derzeit die Fördergelder an die Spitzenverbände verteilt. Attribut neun im Potas-Katalog, das Gesundheitsmanagement, fordert zumindest, dass dieses "innerhalb des Spitzenverbandes über adäquate Verfahrenswege koordiniert und abgestimmt" ist. Als die Potas-Kommission 2021 ihre Ergebnisse für den Sommersport vorlegte, waren die Leichtathleten Spitzenreiter.

Zwei Jahre zuvor, als der DLV das App-Programm gerade aufgesetzt hatte, war der Jubel ähnlich groß. "Bei den Sportlern hatten wir relativ schnell innerhalb von sechs Wochen nach der Einführung bereits eine Teilnahmequote von fast 85 Prozent", sagte Idriss Gonschinska: "Dies bedeutet, dass ein Großteil der Athleten spontan von der Idee überzeugt war und gemeinsam mit uns daran glaubt, dass es bei ihrer Trainingsanpassung helfen kann." Bis zuletzt präsentierte der DLV das System als großen Wurf, im vergangenen Herbst etwa auf der Leistungssportkonferenz des Deutschen Olympischen Sportbundes. Rainer Knöller, der "Head of Science" im DLV, sprach dort von einer "In-Time-Vernetzung der beteiligten Player" und einer "deutlichen Verbesserung des Gesundheitsmanagements für den Athleten".

In-Time-vernetzt? Lauter überzeugte Nutzer? Dutzende Gespräche mit Vereinstrainern, Bundestrainern und Insidern zeigen heute ein völlig anderes Bild: jenes einer an sich guten Idee, die weder gut aufgegleist noch richtig zu Ende gedacht sei.

Das Projekt sei "ganz schön im Sande verlaufen", findet einer, ein anderer spricht von einer "Totgeburt"

Ein Heimtrainer erzählt im Gespräch, dass die von ihm betreuten Kaderathleten die App zunächst so nutzten, wie von der Packungsbeilage empfohlen: jeden Morgen Pulswerte vermerken, dazu Fragen zu Trainingsintensität, Stress, Schlaf und Wohlbefinden beantworten. Die Ruhepulswerte, die das System über die Zeit sammelte, seien tatsächlich hilfreich gewesen: Wenn der Puls am Morgen um ein paar Schläge erhöht sei, deute das schon an, dass da ein Infekt heranrollen könnte. "Aber", sagt der Trainer, "dazu braucht man keine App. Da liefert einem heute jede Smartwatch genauso viele Informationen."

Und die anderen Parameter, ob der Athletenkörper fit ist für das harte Training, oder wenn man gar eine Verletzung melde? Da sei es schon mal vorgekommen, dass eine Warnlampe angesprungen sei. Nur: "Es hat sich eigentlich keiner gemeldet", sagt der Trainer. Weder der zuständige Bundestrainer, noch die DLV-Ärzte, deren Praxis oft Hunderte Kilometer entfernt liegt. "Bis da mal einer was unternommen hat, war es einfacher, die Leute selbst anzurufen", sagt der Trainer, er meint: das Netz an Fachkundigen, das man über die Jahre am Trainingsort gespannt hatte. Er selbst und seine Athleten nutzten das System jedenfalls längst nicht mehr. Konsequenzen habe das keine gehabt.

Das bestätigen auch andere Heim- und Bundestrainer, quer durch alle Disziplinen und Altersgruppen. Kurt Ring, der in seiner Regensburger Laufschmiede derzeit ein halbes Dutzend Kaderathleten betreut, sagt: "Was hilft mir die Hilfe irgendwo, wenn ich einem Athleten hier sofort helfen muss?" Andere Trainer berichten von Athleten, die sich bei der Entwicklung nicht eingebunden fühlten - und sich nun nicht unterstützt, sondern kontrolliert wähnten, wenn sie täglich eine App mit sensiblen Daten füttern sollten. Ein hochrangiger Kenner sagt, dass die App vor allem noch von den Läufern genutzt werde. Dort ist es dem Vernehmen nach auch nur eine verschwindende Zahl. Das Projekt sei "ganz schön im Sande verlaufen", findet einer, ein anderer spricht von einer "Totgeburt".

Und die angeblichen Vorbilder im US-Teamsport, in den Niederlanden und Norwegen? Nun, in Norwegen und in den Niederlanden ist die Leichtathletik an wenigen Stützpunkten konzentriert, da sind die Wege naturgemäß kürzer, im Teamsport sowieso. Ganz anders als im verzweigten Leichtathletikdeutschland, wo ein Athlet womöglich in Erding trainiert, der Verbandsarzt in Buxtehude sitzt und der Bundestrainer in Lüdenscheid.

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Fragt man den DLV heute, vibriert die Antwort schon deutlich weniger vor Enthusiasmus. Er schreibt von einer "überaus komplexen Struktur des DLV", vom Athleten bis hin zum ehrenamtlichen Verbandsarzt, da sei die Nutzung "naturgemäß heterogen" - bei "stetig steigender Akzeptanz". Wie sich diese Akzeptanz manifestiert, wird nicht weiter ausgeführt. Auch lässt der DLV unbeantwortet, wie viele Athleten derzeit die App täglich mit den erwünschten Daten füttern, wie die fehlenden oder schleppenden Rückmeldungen zur postulierten "In-Time-Vernetzung" passen oder welche Erkenntnisse für die DLV-These vorliegen, dass das System wirksam die Verletzungen eindämme. Man habe aber "Vertreter aller Nutzergruppen" bei den "Anpassungen" des Systems involviert. "Gemäß internationaler Erfahrung", heißt es weiter, benötigt es bei Individualsportarten ohnehin "eine Athletengeneration, um ein solch komplexes System vollständig zu implementieren", also eine "Compliance" von 80 Prozent zu erreichen. "Aufgrund der guten Erfahrungen" plane man "im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2024, auch die Nachwuchskader hier einzubeziehen" - jene Athleten, die 2028 bei Olympia wieder zurück in die Weltspitze finden sollen.

Für Jürgen Mallow, der in seiner Zeit als Sportdirektor im DLV schon mal eine hohe Verletztenquote senkte, stehen die heutigen Bemühungen im DLV viel eher symptomatisch für einen Verband, der lieber "um drei Ecken" denke, statt Elementares zu festigen: "Jeder gute Trainer sieht schon, wenn ein Athlet auf den Platz kommt, ob der heute was drauf hat oder nicht", sagt Mallow. "Und jedes gute Trainer-Athleten-Team ist so aufgebaut, dass der Athlet sagt: 'Trainer, ich hatte heute Stress mit meiner Freundin, lass uns heute nicht intensiv an der Technik arbeiten.'" Ihm wäre es wichtiger, "der DLV könnte Trainer und Athleten befähigen, selbstständig und selbstverantwortlich wieder Leistung zu entwickeln." Trainer also besser auszubilden, Transfer von Wissen und adäquaten Trainingsprogrammen zu fördern, die Ursachen von Verletzungen zu bekämpfen, nicht nur die Symptome, die eine App (oder eine Smartwatch) erkennt.

So bleibt fürs Erste der Eindruck eines Verbandes haften, der ein bisschen besser dazustehen glaubt, als es die Realität offenkundig hergibt.

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