EM-Halbfinale:Eine Umarmung, in der Italien steckt

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Cheftrainer Roberto Mancini (rechts) herzt seinen Delegationsleiter Gianluca Vialli. (Foto: Laurence Griffiths/Reuters)

Roberto Mancini und Gianluca Vialli kennen sich seit 40 Jahren. Nach Viallis Krebstherapie holte ihn Mancini ins Team - die Erfolgsgeschichte Italiens bei der EM ist auch die Geschichte dieser besonderen Freundschaft.

Von Oliver Meiler, Rom

Es gibt Bilder, von denen weiß man schon, dass sie für immer bleiben werden, wenn sie noch laufen - live. Sie entfalten ihre Wirkung unmittelbar. Eines dieser Bilder, für die Italiener vielleicht das bewegendste von allen bei der bisherigen EM, gab es gar zwei Mal, in schneller Abfolge und beinahe identisch. Es ist das Bild einer schönen Freundschaft, ein Sinnbild weit über den Fußball hinaus.

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Italien spielt gegen Belgien, wie es neuerdings immer spielt: mit ansteckender Freude. Das Land fühlt sich an die WM 2006 erinnert - nur der Ausfall von Leonardo Spinazzola drückt auf die Stimmung.

Von Oliver Meiler

Es läuft die Verlängerung im Achtelfinale gegen Österreich, es ist ein unerwartet zäher Leidenskampf. Als das erste Tor für Italien fällt, schwenkt die Kamera schnell auf Roberto Mancini, den Commissario Tecnico. Der dreht sich zu seiner Bank um, in Jubelpose, ja, aber wie es seine Art ist: eher kompakt, abgeklärt.

Und dort, hinter den Leuchtbanden mit den Werbungen, löst sich Gianluca "Luca" Vialli, Capo Delegazione der Nationalmannschaft und früherer italienischer Starstürmer, aus dem Mitarbeiterstab, dribbelt sich durch die Werbebanden und stürzt sich in die Arme des Trainers, mit weit aufgerissenen Augen und Mund. Die Szene wiederholt sich nach dem zweiten Tor, eine fast perfekte Replik. "In dieser Umarmung", schreibt eine Zeitung später, "steckt Mancinis Italien." Und Viallis.

Eine Weile lang wagte sich Vialli kaum in die Öffentlichkeit

Gianluca Vialli hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Fürs Erste hat er ihn besiegt, aber Gewissheit gibt es ja nie. Neulich erzählte er, er habe in der schlimmsten Phase seines Kampfes gegen den Tumor so viel Gewicht verloren und sei so dünn geworden, dass er sich kaum mehr an die Öffentlichkeit wagte. "Wenn ich dennoch rausging, habe ich unter meinem Hemd einen Pullover getragen, damit sich die Leute nicht erschreckten." Vor eineinhalb Jahren holte ihn Mancini ins Nationalteam, weil er fand, die aktive Rolle als Leiter der Delegation, als Motivator und Begleiter junger Spieler, würde wie eine Therapie wirken.

Die zwei Männer, beide 56, kennen sich seit bald vierzig Jahren. Acht davon haben sie zusammen bei Sampdoria Genua gespielt, bei der mirakulösen "Samp", italienischer Meister 1991. Das Wunder waren vor allem sie, "Mancio & Luca": Es gab eine Zeit, da nannte man sie "Zwillinge des Tors", so leichtfüßig und gerundet kombinierten sie sich durch die gegnerischen Abwehrreihen. Mancini, der scheue "Golden Boy", war ein ziemlich genialer, technisch feiner offensiver Mittelfeldspieler - ein Aristokrat auf dem Platz, immer etwas abgehoben und schnell eingeschnappt. Er konnte sehr unwirsch sein, mit dem Schiedsrichter, der Presse, den Fans. Die Italiener sind noch immer überrascht, wenn er heute vor die Fernsehkameras tritt und souverän redet. Vialli, der Mittelstürmer, war immer schon ein sonniges Gemüt, direkt, ein Lebemann, die Stulpen trug er auf Knöchelhöhe.

Sie waren Freunde auch neben dem Platz, mit gelegentlichen Streitereien: Einmal riefen sie sich eine Woche lang nur beim Nachnamen, eine Animosität für einen Fehlpass im Training. Solche Anekdoten erzählt man sich natürlich nur, weil es keine wirklichen Zerwürfnisse gab. In der Galerie der denkwürdigen Sturmduos in der Geschichte des Calcio gebührt ihnen ein prominenter Platz, ideell sogar der prominenteste: Die beiden machten einen Provinzverein zur Hausnummer. Nach Sampdoria aus Genua kamen alle Meister aus Mailand, Turin und Rom, seit dreißig Jahren also.

1992 schossen sie gemeinsam das kleine Sampdoria Genua ins Finale der Königsklasse

Mancinis und Viallis "Samp", trainiert vom Serben Vujadin Boškov, schaffte es im Jahr nach dem Scudetto bis ins Finale der europäischen Königsklasse, die damals noch Europapokal der Landesmeister hieß. Und dieses Endspiel, da schließt sich wieder einmal ein Kreis, fand im Londoner Wembley statt. Wie schon das Achtelfinale gegen Österreich, wie nun das Halbfinale gegen Spanien, wie dann auch das Finale. Und auch damals waren die Gegner Spanier, okay, katalanische Spanier. 22. Mai 1992. Der FC Barcelona gewann das Spiel in der Verlängerung, 112. Minute, ein Freistoßtor von Ronald Koeman. Vialli wechselte danach zu Juventus Turin, später zum FC Chelsea. Mancini blieb noch ein paar Jahre in Genua, sie sollten immer enge Freunde bleiben.

Als Vialli erkrankte, brauchte Mancini mehrere Tage, um sich zu sammeln. Dann erst rief er ihn an.

Mancini, Vialli und noch einige weitere alte Freunde, die sich im Leben irgendwie immer wieder zusammenfinden, haben aus einem Team, das sich nur alle paar Monate trifft, eine Gruppe geformt, die oft wie eine Vereinsmannschaft spielt - fluid und schnell, mit reifen Automatismen. Ein bisschen wie ihre "Samp". Sie wählten für das Projekt Spieler aus, die entweder noch gar kein Scheinwerferlicht abbekommen haben oder die schon im Schatten verschwunden waren. In den vergangenen drei Jahren hat Mancini mehr als siebzig Spieler aufgeboten, an Rädchen gedreht, am System geschraubt, bis es passte. Und Vialli brachte den Ragazzi bei, wie das mit dem Siegen geht, im Fußball und im Leben.

Die Serie der Azzurri liegt nun bei 32 Partien ohne Niederlage

In der Miniserie, die die Sendeanstalt Rai vom Aufbau der Nationalmannschaft gedreht hat, sieht man Vialli im Besprechungsraum in Coverciano, wie er über seinen Kampf gegen den Krebs redet - bewegt, aber nicht larmoyant. Er habe den Spielern beigebracht, schreibt La Repubblica, dass es sich immer lohne zu kämpfen, auch um jeden Ball, in jedem Duell. Vialli sei eine Inspiration für alle, ein Beispiel.

Die Italiener staunen noch immer über die Verwandlung ihrer Nazionale, auch nach 32 Partien ohne Niederlage und nach fünf fröhlich ungestümen und stürmischen Siegen, die sie ins Halbfinale getragen haben. Sie sind beschwingt verwundert, versteht sich. Im gar nicht so beiläufigen Smalltalk auf der Piazza duelliert gerade "Grande Italia" mit "Bella Italia", in der Verkürzung liegt bekanntlich die Würze. Nicht selten kommt dann die Rede darauf, wie die Azzurri miteinander umgehen. Wie herzlich und körperlich sie doch untereinander sind, ohne Allüren und Egoismen.

Von Innenverteidiger Leonardo Bonucci, der sich selbst nicht als sonderlich sympathiegetriebenen Spieler beschreiben würde und, wie er vor ein paar Tagen erzählte, normalerweise aus der Anfeindung von den Rängen einen schönen Teil seiner Energie bezieht, ist der Satz überliefert: "Das ist die mannschaftlichste Mannschaft aller Zeiten." Die empathischste, die harmonischste, für die Italiener die sympathischste: Sampdoria Italia.

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