Fußball-EM:"Zwei Schritte vorwärts - aber dann kommt so was"

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Etwa 400 Meter von der großen ManCity-Arena entfernt: Ins Manchester City Academy Stadium passen 7000 Zuschauer, wegen der Regularien der Uefa sind während der EM nur 4700 zugelassen. (Foto: Malcolm Bryce /Pro Sports Images/Imago)

Die EM in England begann mit einem Zuschauer-Rekord in Old Trafford und soll in Wembley vor 89 000 Fans enden. Doch die Auswahl einiger kleinerer Stadien sorgt für Unmut.

Von Anna Dreher, London

Alle sind nicht gekommen. Aber trotzdem so viele, dass die EM in England mit einem Rekord begonnen hat: 68 871 Zuschauer saßen am Mittwochabend im 74 000 Menschen fassenden Old Trafford von Manchester United. Die bisherige Bestmarke, gesetzt im 2013 von Deutschland gegen Norwegen gewonnene Finale, waren 41 301. "Es war unglaublich!", sagte Englands Trainerin Sarina Wiegmann nach dem 1:0 gegen Österreich, dessen Kulisse Siegerinnen wie Verliererinnen lächeln ließ. Große Spiele auf großen Bühnen, das ist genau das Level, auf dem sich der Frauenfußball etablieren will. Und genau deshalb kam nicht nur Begeisterung auf, sondern auch Kritik an der Stadionauswahl dieser EM. Kritik, die das Turnier begleiten dürfte.

Dem englischen Fußballverband FA wird eine Fehleinschätzung vorgeworfen. Mit dem Old Trafford zum Auftakt und dem Londoner Wembley Stadion zum Abschluss wurden zwar zwei riesige Arenen gewählt. Doch zu den insgesamt zehn Veranstaltungsorten zählen auch das nur 12 000 Zuschauer fassende New York Stadium in Rotherham, das Leigh Sports Village in Wigan mit einer Kapazität für 8000 - und das Stadion der Manchester City Academy, in das gemäß der Uefa-Regularien gerade einmal 4700 Leute dürfen. Entscheidungen, die vor allem deshalb überraschen, weil die FA seit Jahren eine ambitionierte Strategie zur Entwicklung des Frauenfußballs verfolgt, die unter anderem ihre Liga zur internationalen Messlatte gemacht hat.

"Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht": Sara Björk Gunnarsdottir hat die Stadionwahl bei der EM stark kritisiert - und damit einen Nerv getroffen. (Foto: Daniel Stiller/Bildbyran/Imago)

Auf dem ManCity-Gelände spielt an diesem Sonntag Belgien gegen Island, dessen Mittelfeldspielerin Sara Björk Gunnarsdóttir entsetzt war über den Spielort: "Das ist respektlos gegenüber dem Frauenfußball, weil er so viel größer ist, als die Leute denken", sagte die 31-Jährige dem Podcast "The Pitch" im Frühjahr. Ihr Unmut fand viel Gehör und hallt bis heute nach: "Du denkst, Frauenfußball macht zwei Schritte vorwärts, aber dann kommt so was."

"Wir mussten einige Vereine und Städte davon überzeugen, sich zu melden", sagt FA-Geschäftsführer Mark Bullingham

England habe so viele Stadien, sie aber müssten auf dem Trainingsgelände eines Klubs spielen. "Schaut euch den Frauenfußball heute an, die Stadien sind ausverkauft", sagte die frühere Wolfsburgerin und bezog sich auch auf die mehr als 91 500 Fans, die im März den FC Barcelona gegen Real Madrid im Camp Nou sahen. Im Champions-League-Halbfinale gegen Wolfsburg kamen dort sogar 91 648. Über die EM-Veranstalter wunderte sich Gunnarsdóttir : "Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht oder ob sie Frauenfußball überhaupt verfolgen. Der Frauenfußball explodiert, er wird so viel besser."

Das Wachstum des Frauenfußballs hängt auch von den Turnieren ab, deren Strahlkraft die Ligen und damit den Sport insgesamt populärer machen sollen - und somit eine nachhaltige Wirkung entfalten. Deshalb sorgte auch bei anderen Spielerinnen die Wahl der Austragungsorte für Unmut und Verwunderung. Die Stadien in Brighton & Hove, Milton Keynes, Sheffield und Southampton fassen 30 000 Zuschauer - warum nicht mehr davon und überhaupt größere Stadien? FA-Geschäftsführer Mark Bullingham gab vor der EM zu bedenken, dass es bei der Vergabe der Spielorte 2019 kein Überangebot gegeben habe. "Wir mussten einige Vereine und Städte davon überzeugen, sich zu melden, also sind wir eigentlich sehr glücklich darüber, wo wir stehen", sagte er: "Wenn Sie glauben, dass uns die Leute die Tür eingetreten haben, um Spiele auszurichten - das war nicht der Fall."

Die EM wurde 2018 nach England vergeben, da war nicht eindeutig mit den bevorstehenden Rekordzahlen im europäischen Klubfußball zu rechnen. Die EM in den Niederlanden 2017 aber hatte bereits gezeigt, auf welches Wachstum der Frauenfußball zusteuern könnte. Das Land war damals wie im Rausch, die Straßen wandelten sich vor Spielen der Gastgeberinnen in ein orangenes Menschenmeer, die gute Stimmung schwappte auf alle über. In England war das Interesse damals ebenfalls groß: Das Halbfinale zwischen den Niederländerinnen und den "Lionesses" schauten sich laut Guardian vier Millionen Menschen im TV an. Bei der WM 2019 in Frankreich stieg das globale Interesse erneut, mehr als eine Million Tickets wurden verkauft - in jenem Jahr wurden die EM-Standorte festgelegt.

Für das Finale im Wembley-Stadion sind alle 89 000 Tickets verkauft

Zum Gruppenspiel des deutschen Nationalteams im Brentford Community Stadium gegen Dänemark kamen 15 700 Zuschauer, dort spielt die DFB-Auswahl auch am nächsten Dienstag gegen Spanien. Turnierdirektor Chris Bryant sagte dem Guardian: "Die Veranstaltung, die wir diesen Sommer liefern, wird weitaus größer sein als die Veranstaltung, die wir geplant und bei der Bewerbung erwartet hatten. Frankreich 2019 war ein großer Teil davon, es war ein Weckruf."

Es sei jedoch nicht einfach, mit den wachsenden Erwartungen Schritt halten zu können, hieß es, die FA sei glücklich mit der Wahl der Stadien, die Mischung stimme. Die frühere deutsche Nationalspielerin Nadine Keßler, inzwischen Abteilungsleiterin für Frauenfußball bei der Uefa, verteidigte die Entscheidungen: "Wenn man die Kapazität des Turniers von 430 000 auf 720 000 erhöht, kann man nicht sagen, dass die Turnierorganisatoren nicht ehrgeizig genug sind", sagte sie der Agentur AFP.

Bei der EM 2017 waren mehr als 240 000 Zuschauer in die Stadien gekommen. Diese Bestmarke hatte England bereits vor dem Turnierstart überboten - mit 500 000 der für fünf und 50 Pfund verkauften Tickets. Die Zahl könnte bis zum Turnierende Ende Juli weiter steigen, insgesamt stehen 725 000 Karten zur Verfügung. Das Finale in Wembley ist ohnehin längst ausverkauft. Wenn am 31. Juli in London alle 89 000 kommen, dann dürfte trotz berechtigter Diskussion um die Stadienwahl eine Sache hängen bleiben: ein neuer Rekord.

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