Zumindest kurz regte sie der Sonntagabend dazu an, noch mal darüber nachzudenken, ob der Zeitpunkt ihres Abschieds vielleicht doch verfrüht war. Carli Lloyd schaute mit Alex Morgan und Megan Rapinoe von der Tribüne des U.S. Bank Stadiums in Minneapolis den Rolling Stones unten auf der riesigen Bühne zu. Mick Jagger tanzte mit den für ihn so typischen energiegeladenen Bewegungen, keine Spur von Ermüdungserscheinungen. "Sie geben mir irgendwie das Gefühl, dass ich weiterspielen sollte", sagte Lloyd danach US-Medien. "Wie Mick im Alter von 78 Jahren die Bühne rauf und runter rennt und so aufgetreten ist, wie er es tat - das war ziemlich unglaublich."
Carli Lloyd ist jetzt 39 Jahre alt, sie hätte also nach Stones-Zeitrechnung noch ein paar Jahrzehnte vor sich. Aber Lloyd, eine der erfolgreichsten Fußballerinnen hat ihre Karriere im US-Nationalteam am Dienstag dann doch wie geplant beendet.
Lloyd hat 134 Tore für das Nationalteam geschossen - einige davon haben Finals entschieden
Im Länderspiel gegen Südkorea (6:0) wechselte Chefcoach Vlatko Andonovski sie in der 65. Minute aus, 18 115 Zuschauer jubelten ihr stehend zu und Lloyd musste erstmal tief durchschnaufen. Jetzt war er wirklich gekommen, dieser Moment, der sich seit Bekanntgabe ihres Karriereendes im August genähert hatte. Damals bezeichnete der US-Fußballverband sie in einer Mitteilung als "die vielleicht einflussreichste Spielerin, die jemals für die US-Frauen-Nationalmannschaft gespielt hat".
Lloyd zog ihre Stutzen nach unten, schlüpfte aus ihren Schuhen, umarmte Mitspielerinnen und winkte mit Tränen in den Augen ins Stadion von Saint Paul, während sie den Rasen verließ. Als die Frau aus New Jersey in Worte fassen konnte, was ihr durch den Kopf gegangen war, sagte sie: "Es war sehr emotional. Aber ich fühle einfach ein Gefühl von Frieden und Zufriedenheit - es ist einfach Freude und Glück."
Mit 316 Länderspielen ist Lloyd die Person mit den zweitmeisten Einsätzen im Fußball. Mehr hat mit 354 nur ihre Landsfrau Kristine Lilly. In ihren mehr als 16 Jahren im Nationalteam wurde sie 2016 und 2017 zur Weltfußballerin gewählt, 2015 und 2019 Weltmeisterin sowie 2008 und 2012 Olympiasiegerin. Sie schoss 134 Tore, von denen einige entscheidend dazu beitrugen, dass die US-Frauen ihre Vormachtstellung beibehalten haben.
2008 erzielte Lloyd den 1:0-Goldtreffer gegen Brasilien, 2012 schoss sie beide Tore im Olympia-Finale gegen Japan, gegen das sie mit drei Toren beim 5:2 auch das WM-Endspiel 2015 entschied - innerhalb der ersten 16 Minuten, eins davon von der Mittellinie. Als die US-Frauen bei den Sommerspielen 2021 den Finaleinzug verpassten, saß Lloyd noch lange alleine mitten auf dem Platz. Ohne Medaille wollte sie nicht abreisen. Beim 4:3 gegen Australien waren es dann auch ihre zwei Treffer, die Bronze sicherten.
Die Mittelfeldspielerin, die immer mehr zur Stürmerin wurde, debütierte 2005 wenige Tage vor ihrem 23. Geburtstag im Nationalteam. Lloyd wurde häufig für ihre Leistungsschwankungen kritisiert und galt nie als herausragendes Talent, stattdessen als Fußballerin, die fast schon obsessiv nach Perfektion strebte, ihrem Sport alles unterordnete und so hart trainierte wie wenige sonst. Athletisch, unermüdlich, mental stark - dieses Image pflegte Lloyd auch selbst. Mit ihrer Einstellung und Hingabe, ja Verbissenheit, eckte sie bisweilen jedoch auch an.
"Wenn Leute den Namen Carli Lloyd hören, denken sie wahrscheinlich an jemanden, der eiskalt ist"
Vor ihrem Abschied formulierte Lloyd ihre Gedanken zum Abschluss ihrer Karriere in einem Beitrag für die Internet-Plattform The Players Tribune. "Ich weiß, wenn Leute den Namen Carli Lloyd hören, denken sie wahrscheinlich an jemanden, der eiskalt ist. Ein Killer. Vielleicht sogar ein Roboter", aber das sei sie nicht: "Ich habe das Gefühl, diese Carli Lloyd, der Killer, war fast wie eine Maske, die ich aufsetzen musste, um all die Dinge zu überleben, die mir in den Weg geworfen wurden."
Sie habe eine unterdurchschnittliche Spielerin sein sollen, in den Augen vieler sei sie nicht für Großes vorgesehen gewesen. Sie habe viele hässliche Dinge gehört, von denen sie manche Worte tief verletzt hätten: "Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, jeden einzelnen Menschen dazu zu bringen, seine Worte zurückzunehmen. Das Unmögliche zu tun." Olympia 2012 sei für sie ein Wendepunkt gewesen in einer Phase, als viele sie abgeschrieben hätten. Ihre Torbilanz bestätigt das: 98 ihrer Treffer schoss sie nach ihrem 30. Geburtstag. Nach dem WM-Finale 2015, schreibt Lloyd weiter, sei sie auf einmal Amerikas Heldin gewesen: "Es war kein Märchen. Es war wirklich verdammt hart."
Sie will sich nun anderen Dingen zuwenden und mit ihrem Mann eine Familie gründen, dem Fußball aber verbunden bleiben. "Jeden Tag, den ich auf dem Feld stand, habe ich gespielt, als wäre es mein letztes Spiel", hat Carli Lloyd einmal gesagt. Mit NJ/NY Gotham FC wird sie die Saison der National Women's Soccer League noch beenden. Dann hört sie wirklich auf - und muss wohl niemandem mehr etwas beweisen.