Jamaikas Sprinterinnen bei der Leichtathletik-WM:Schwarzgrüngelb tanzt wieder

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Bronze, Gold und Silber (von links nach rechts): Elaine Thompson-Herah, Shelly-Ann Fraser-Pryce und Shericka Jackson. (Foto: Joel Marklund/Bildbyran/Imago)

Jamaikas Männer jagen seit Jahren erfolglos dem Glanz von Usain Bolt hinterher? Dann gewinnen eben die Frauen alle WM-Medaillen über 100 Meter. Über eine erstaunliche Blütezeit.

Von Johannes Knuth, Eugene

Die Weltmeisterschaften in Eugene waren bislang eine eher nervige Angelegenheit für die jamaikanischen Anhänger. Sie tanzten meist nur während des Vormittagsprogramms, auf der Tribüne des Hayward Field, aber so gut ihre Athleten sich in den Vorkämpfen auch präsentierten: Man groovt sich ein, lässt auf den letzten Metern austrudeln, um dem Gegner vor den nächsten Runden eine kleine Denksportaufgabe mitzugeben. Mehr nicht.

Abends, bei den Finalläufen, zogen dann jedenfalls die Gastgeber ihre Show durch. F-15-Kampfjets donnerten übers Stadion, und wenn irgendwo ein Athlet jubelte, trug er oft das rot-blaue Leibchen mit fetten "USA"-Lettern darauf. Am Sonntagabend gewannen die Amerikaner allein vier Goldmedaillen, dank Kugelstoßer Ryan Crouser (22,94 m), Stabhochspringerin Katie Nageotte (4,85 m), Hammerwerferin Brooke Andersen (78,96 m) und 110-Meter-Hürdenläufer Grant Holloway (13,03 s); wobei Devon Allen, der Jahresschnellste, disqualifiziert wurde, weil er sich eine Tausendstelsekunde zu früh aus dem Block gelöst hatte. Über die 100 Meter der Männer hatten die Amerikaner am Abend zuvor sogar alle drei Medaillen an sich gerissen - just in jenem Event, in dem Siege von Jamaikas Spaßsprintern über Jahre so gewöhnlich waren wie Jamaika-Klischees über Reggae, Strand und Rum.

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Aber dann kam der Sonntagabend. Als Shelly-Ann Fraser-Pryce, die alte, neue Weltmeisterin, über die Ziellinie schoss, den Finger in die Luft reckte, war die Party eröffnet. Schwarz-grün-gelbe Flaggen flatterten im Abendwind, Frauen mit schwarz-grün-gelben Haarbändern tanzten, Tröten ertönten, Hüte und Hüften wackelten. Fast jeder Jamaikaner schien im Stadion zu warten - im Gegensatz zu den Amerikanern am Tag zuvor -, bis das Siegertrio auf der Ehrenrunde vor seinem Block vorbeizog. Fraser-Pryce auf Platz eins in 10,67 Sekunden, Shericka Jackson Zweite (10,73), Elaine Thompson-Herah auf Rang drei (10,81), das bezeugt man auch nicht bei allen Titelkämpfen. Zumal noch keine Weltmeisterin über 100 Meter so schnell war wie nun Fraser-Pryce. Mit ihren 35 Jahren hatte sie sogar Justin Gatlin abgelöst, den einst gedopten, ewigen Buhmann des Sprints und bislang ältesten Sprint-Weltmeister.

Lange her: Usain Bolt (Mitte) mit Yohan Blake (rechts) und Warren Weir (links) bei den Spielen 2012 in London. (Foto: Olivier Morin/AFP)

Wenn man an Jamaikas Dominanz im Sprint denkt, hatte man lange vor allem Fotos wie jene aus London 2012 im Kopf. Usain Bolt, Yohan Blake und ein gewisser Warren Weir, Letztere jeweils 22 Jahre alt, gewannen damals die Hauptpreise über 200 Meter. Die Gegenwart funkelte hell, die Zukunft stand schon parat. Aber Blake und Weir (der mit 27 seine Karriere beenden sollte) stolperten erst einmal in Verletzungen. Der Nachwuchs rückte plötzlich schleppend nach. Im vergangenen Jahr schaffte es kein Sprinter aus Jamaika ins Olympiafinale über 100 Meter, das war ihnen zwei Jahrzehnte lang nicht widerfahren. Die Jüngeren, hatte Bolt schon zuvor gepoltert, würden lieber die Gagen der ersten Profiverträge verjubeln statt zu trainieren. Fast so, als würden sie sich an jenem Lebensstil orientieren, der dem jungen Usain zu eigen war.

Die Bestürzung hielt sich aber noch in Bahnen, denn da sind ja noch die schnellen Kolleginnen. Fraser-Pryce schwebt ohnehin seit Jahren über allem, mit drei Olympiasiegen (im Einzel und mit der Staffel), nun fünf WM-Titeln allein über 100 Meter. Schon im Vorjahr, in Tokio, besetzten die Jamaikanerinnen exklusiv das Podium, Thompson-Herah gewann damals vor Fraser-Pryce und Jackson. Thompson-Herah drückte ihre Bestzeit kurz darauf - in Eugene, wo nun die WM stattfindet - sogar auf 10,54, nur fünf Hundertstel langsamer als Florence Griffith-Joyners Weltrekord aus der Anabolika-Ära.

Hörte man sich in Eugene im Umfeld der Jamaikaner um, glichen sich die Begründungen: Die Sprinterinnen leisteten das, was den Kollegen abgehe: Disziplin und Fokus. Auch sonst nähmen sie seit Jahren alle Vorzüge der heimischen Leistungsfabriken wahr, vor allem in der Trainingsgruppe von Stephen Francis, einem Selfmade-Trainer, der mit seinem MVP-Klub enorm erfolgreich ist. Einer, sagen sie in Jamaika, der genau wisse, wie er jeden Einzelnen zum Höhepunkt fit bekomme.

Ähnlich lang wie die jamaikanische Ruhmesliste ist die Liste mit Dopingfällen

Andererseits ist auch nicht alles eitel Sonnenschein bei Schwarzgrüngelb. Fraser-Pryce und Thompson-Herah verließen den MVP-Klub zuletzt, angeblich - das streute die Teamleitung selbst - weil die beiden eher nicht eine Hängematte am Strand teilen würden. Fraser-Pryce kam bei Reynaldo Walcott unter, einem begabten ehemaligen MVP-Alumnus. Thompson-Herah trainiert jetzt bei ihrem Ehemann, der, wie Kenner bemerken, noch so seine Schwierigkeiten damit habe, eine Weltklasseathletin zum Saisonhöhepunkt schnell zu machen. Und Stephen Francis, der noch immer Shericka Jackson anleitet, ist offenbar umso motivierter, um es den Abgewanderten erst recht zu zeigen. Wie lange diese Rivalität zwischen Trainern und Trainingsgruppen Früchte abwirft, das ist eine spannende Frage.

Und der handelsübliche Verdacht? Tja. So lang die Ruhmesliste ist, die Rubrik der Stimulans- und sonstigen Dopingfälle im Umfeld der jamaikanischen Leistungsschmieden ist nicht viel kürzer, von Asafa Powell bis Nesta Carter, von Yohan Blake bis Shelly-Ann Fraser-Pryce. Auch die neue, alte Weltmeisterin war 2010 ein halbes Jahr gesperrt, nach einem Positivtest auf ein Schmerzmittel, das sie sich bei einem Zahnarzttermin einfing, wie sie sagte. So was hängt einem nach, zumal Fraser-Pryce seitdem immer schneller wurde, just im Sprint, der es mit alternden Athleten am wenigsten gut meint, eigentlich. Sie fühle sich "gesegnet", mit derart viel Talent ausgestattet zu sein", sagte sie, seit fünf Jahren Mutter eines Sohnes, kurz nach ihrem Triumph im Stadion, das inspiriere hoffentlich viele Athletinnen, "ihre eigene Reise zu unternehmen".

Aber Ob sich das allein mit neuen Belägen, Karbonplatten und Schaumstoffen in neuen Wunderspikes erklären lässt, wenn man nun einer gewissen Marion Jones den Meisterschaftsrekord über 100 Meter entreißt, einem der Gesichter des Balco-Dopingskandals?

Man hätte das Fraser-Pryce gerne gefragt, aber die 35-Jährige wurde nach wenigen Fragen aus der Mixed Zone geschoben. Die später angesetzte Pressekonferenz ließ der Leichtathletik-Weltverband ausfallen: Am Montag standen in Eugene die Vorläufe über 200 Meter an. Die Reise geht weiter.

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