100 Meter bei der Leichtathletik-WM:Vom Adoptivkind zum Weltmeister

Lesezeit: 4 min

Erster US-Amerikaner im Ziel: Fred Kerley gewinnt die 100 Meter vor seinen Landsleuten Marvin Bracy und Trayvon Bromell. (Foto: Jon Olav Nesvold/Bildbyran/Imago)

Fred Kerley, der in Eugene die 100 Meter gewinnt, schlief einst mit zwölf anderen Kindern in einem Zimmer. Er ist auch deswegen ein ganz anderer Charakter als der Spaßsprinter Usain Bolt - und kann sich trotzdem nicht von dessen Einfluss lösen.

Von Johannes Knuth, Eugene

Es kommt offenkundig nicht sehr oft vor, dass Fred Kerley, der neue Weltmeister über 100 Meter, herauskriecht aus seiner ernsten Hülle. Am Samstag, nach seinem ersten interkontinentalen Triumph in Eugene, gewährte er ein paar wenige Ausnahmen. Zum Beispiel, als der 27-Jährige aus San Antonio enthüllte, dass er sich in seinem Garten, eines seiner liebsten Hobbys, vor den Titelkämpfen mit Kürbis und Spinat gestärkt habe - dann trommelte er auf seinen Bizeps, wie der Cartoon-Held Popeye. Da wirkte der Fred Kerley der vergangenen Tage weit weg: als es schon einer Eruption glich, wenn er die Augenbraue hochzog, bevor er in den Startblock kletterte. Oder als er die Ehrenrunde so mechanisch abschritt, wie er zuvor durch Vorlauf, Halbfinale und Finale getrommelt war. Selbst der Moment, in dem alles von ihm abfallen sollte, sah bei Kerley nach Schwerstarbeit aus.

Der zweite Tag dieser Leichtathletik-Weltmeisterschaften hatte sich ziemlich genau an das Skript gehalten, das ihnen in Eugene vorgeschwebt hatte. Erst beschaffte Kugelstoßerin Chase Ealey den Gastgebern den ersten Titel, dann waren die 100-Meter-Sprinter dran, die noch immer das Feuerwerk abbrennen auf dem bunten Rummel, der Weltmeisterschaften oft auch sind. Alle vier US-Starter waren ins Finale gerückt, sie stellten die Hälfte des Endlauffeldes: Kerley, Marvin Bracy, Trayvon Bromell und Christian Coleman, der die Tokio-Spiele wegen Meldevergehen verpasst hatte (und wegen seines WM-Titels 2019 eine Wildcard für Eugene erhielt). Die US-Reporter witzelten, dass das Quartett diese 4x100 hoffentlich nicht verhauen würde - ein Verweis auf die 4x100-Meter-Staffel, in der vier Amerikaner seit Jahren eine Kunstform daraus machen, ihre Favoritenrolle mit grotesken Stabübergaben zu verdaddeln.

Leichtathletik-WM
:Mit der Kraft der Sterne

Für viele deutsche Athleten sind die Vorkämpfe bei der WM schon wie ein Finale - auch für verdiente Spitzenkräfte wie Hindernisläuferin Gesa Felicitas Krause, die schwere Zeiten hinter sich hat.

Von Johannes Knuth

Aber diesmal blühte alles auf. Bracy, der ehemalige Footballer, wurde Zweiter. Bromell, der in den vergangenen Jahren angeblich 300 000 Dollar für Reisen zu Ärzten ausgegeben hatte, um seine lädierte Achillessehne zu flicken, gewann Bronze. Und Kerley, der große Favorit, Jahresschnellster (in 9,76) und schon im Vorlauf 9,79 Sekunden flink, der schob sich gerade noch mit seiner breiten Brust vor Bracy, 9,86 zu 9,88. Und durfte so, mit kurzen, ernsten Worten, überall seine Geschichte erzählen, die fast so donnernd daherkam wie die Kampfjets, die vor dem Finale übers Stadion gerauscht waren.

Die breite Brust entscheidet: Kerley (Mitte) hechtet um zwei Hundertstelsekunden vor Marvin Bracy (rechts) ins Ziel. (Foto: Jon Olav Nesvold/Imago)

Kerley könnte kaum weiter entfernt sein von all den Großmäulern des Sprints wie Carl Lewis, der 1991 das vorerst letzte komplett amerikanische 100-Meter-Podium angeführt hatte. Kerley spricht sehr oft von "harter Arbeit" und einem "Job", den es zu erledigen gelte, was auch daran liegt, dass ihm im echten Leben lange nicht vieles leicht von der Hand ging. Als er zwei Jahre alt war, war der Vater im Gefängnis, die Mutter hatte "ein paar falsche Abzweigungen" im Leben genommen, wie er sich einmal erinnerte. (Er telefoniere mit beiden heute jeden Tag, sagte Kerley in Eugene.) Seine Tante Virginia habe ihn und vier Geschwister damals adoptiert und aufgezogen - neben ihren eigenen Kindern. Und den Kindern ihres Bruders. 13 Kinder insgesamt, die in einem Schlafzimmer in Taylor, Texas, schliefen, einer Kleinstadt rund 30 Minuten außerhalb von Austin.

Disziplin, dazu fast jede freie Minute in die Kirche, das habe die Tante allen vorgelebt, sagt Kerley heute. Das war es auch, was ihn gerettet habe. Er sah, wie viele Freunde und Mitstreiter vom schmalen Grat stürzten, den ihnen das Leben in den Weg geschoben hatte. "Mich hat allein angetrieben, diesem Dilemma zu entkommen", sagte Kerley in Eugene. Daraus speist sich wohl auch der geradezu heilige Ernst, mit dem Kerley bis heute durchs Leben stapft: Er weiß, wie wenige in der US-Gesellschaft mit ihren dünnen sozialen Auffangnetzen an eine Tante geraten, die mehr als ein Dutzend Kinder großzieht - und es schafft, dass diese dabei "viel Spaß hatten", wie Kerley nun betonte.

"Usain Bolt ist für alle Sprinter ein Vorbild", sagt Kerley

Der zweite Mentor ist bis heute sein Trainer, Alleyne Francique, ein ehemaliger 400-Meter-Läufer aus Grenada, der Kerleys Begabung zu frühen College-Zeiten erkannte - und sich in der Biografie seines Schützlings wiedererkannte. Der Kerley anrief und mahnte, alle College-Kurse zu belegen. Der ihn mit nach Grenada nahm, hartes Training in einfachen Verhältnissen. Der ihn zuletzt als ersten Läufer überhaupt für eine 400-Meter-Zeit unter 43 Sekunden fit machen wollte, eine rasende Idee, die sie vor zwei Jahren erst mal aufschoben: Kerley hatte in den kürzeren Trainingseinheiten so sehr überzeugt, dass er die 100-Meter-Fachmänner herausfordern wollte.

Kerley wurde dafür nicht gerade mit Verständnis überschüttet, aber spätestens in Tokio, wo er Silber gewann, seine erste Medaille im Einzel, da verstummte das Gerede. Wobei damals ohnehin die meisten über den unwirklichen Aufstieg des Olympiasiegers Marcell Jacobs staunten (der in Eugene vor dem Halbfinale verletzt ausstieg). Die 400 Meter werde er sich jedenfalls bald wieder vorknöpfen, versprach Kerley in Eugene, und man kann ungefähr ahnen, wohin das führen soll - der 27-Jährige ist schon jetzt einer von nur drei Athleten, die jemals die 100 Meter unter zehn, die 200 unter 20 und die 400 unter 44 Sekunden liefen.

In Eugene will er auf jeden Fall noch die 200 und 4x100-Meter abspulen, vielleicht sogar die 4x400-Meter. In der Langstaffel wurde im US-Team ohnehin ein Platz frei: Randolph Ross, der aktuelle 400-Meter-Meister, wurde am Samstag von der Integritätseinheit des Weltverbands gesperrt, er soll Ermittlungen gegen ihn behindert haben. Kerley wird vermutlich auch noch spüren, dass die Zweifel einem gratis zufliegen im Kreis der schnellsten Sprinter, in dem nahezu alle schon mal mit Betrug konfrontiert waren - bis auf den Schnellsten, einen gewissen Usain Bolt. Dessen langjähriger Manager, Ricky Simms, betreut nun auch Kerley, und Letzterer hatte am Wochenende schon eine Idee für das nächste Strategiegespräch mit dem Agenten: "Usain Bolt ist für alle Sprinter ein Vorbild", sagte Kerley, "wir wollen ihm alle nacheifern."

Das könnte was werden. Bolt erschuf seine Rekorde ja, wie alle wissen, nicht dank Spinat und Kürbis, auf die der Hobbygärtner Kerley schwört. Sondern mit der Kraft der jamaikanischen Trelawny-Kartoffel.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusChristian Taylor im Interview
:"Ganz ehrlich: Ich finde, das ist eine Schande"

Dreispringer Christian Taylor ist einer der erfolgreichsten US-Leichtathleten - und einer der meinungsstärksten. Bei der WM spricht er über die Rolle von Influencern im Sport, den Einsatz für Athletenrechte und das Dopingproblem.

Von Johannes Knuth

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: