Statistiker, Sportausrüster und Mode-Experten werden sich vielleicht noch mal zusammenhocken, aber das Ergebnis steht wohl schon fest: Das, was die amerikanische Leichtathletin Sha'Carri Richardson vor Kurzem in New York auf die Bahn donnerte, dürfte zumindest für dieses Outfit Weltrekord bedeuten: 10,85 Sekunden über die 100 Meter, mit wehenden blonden Haaren, die ihr bis zum Rücken fielen und in einem Einteiler, um den etwas hin und her schlabberte, was einem aus dem Hafenbecken geangelten Fischernetz glich.
Dabei war das noch nicht einmal der schrillste Hingucker, den die US-Leichtathletik zuletzt aufbot. Auch nicht jene 9,92 Sekunden über 100 Meter von Christian Coleman, der die Sommerspiele zuletzt verpasste, weil er die Dopingtester bei einer - mehr oder weniger erfundenen - Shoppingtour versetzt hatte. Oder Sidney McLaughlin, die zum Saisoneinstand fast ihren 400-Meter-Hürden-Weltrekord toppte, in 51,61 Sekunden. Der größte Bringer war bislang ein Athlet, der neben Richardson wirkt wie ein Büroangestellter mit Karomuster-Pullover und Zahnpastalächeln. Devon Allen, 27, legte die 110 Meter Hürden in New York vor Kurzem in 12,84 Sekunden zurück, nur seine Landsmänner Grant Holloway (12,81, 2021) und Aries Merritt (12,80, 2012) waren je schneller. Und das erzählt schon wieder einiges über die Tiefe der US-Leichtathletik, knapp einen Monat bevor in Eugene die ersten Weltmeisterschaften in den USA anbrechen.

Dabei wollte Allen den Juni ursprünglich als Teilzeit-Leichtathlet angehen: Er hatte kurz zuvor einen Vertrag bei den Philadelphia Eagles aus der NFL signiert, also aus der besten Football-Liga der Welt, ein Knochenjob. Die ersten Einheiten mit seinem neuen Arbeitgeber verpasste er dann, wegen Corona, just vor seinem Auftritt in New York. Aber das, sagte er, habe ihm erst die Zeit verschafft, sich vom harten Training zu erholen. Und ein paar flotte Sprüche legte er sich dabei offenbar auch zurecht.
"Ich hoffe", sagte Allen zuletzt vor dem Diamond-League-Meeting in Oslo, während er ein sehr akkurat sitzendes, rot-weiß gestreiftes Hemd trug, "dass ich nie wieder über 13 Sekunden laufen werde." Das gelang ihm bei seinem Sieg am Donnerstagabend zwar nicht ganz, in 13,22 Sekunden bei Kälte und Gegenwind. Am Samstag, beim nächsten Stopp in Paris, bietet sich aber schon die nächste Chance, und wer weiß: "Sollte ich den Weltrekord in den nächsten Tagen in Europa brechen, dann nur geringfügig, damit ich ihn bei der WM noch mal schaffe", sagte er. Das habe er seinem Coach versprochen. Um dann, wenige Tage später, mit Rekord und WM-Gold behangen in ein Leben als Footballprofi aufzubrechen?

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Derartige Sportlergeschichten kitzeln ja längst nicht mehr nur Bewunderung hervor, aber nach allem, was aktenkundig ist, handelt es sich bei Allen um eine große Begabung. Er heftete sich schon 2014, mit 21 Jahren, an die Fersen der Weltbesten, 2016 gewann er die US-Trials in 13,03 Sekunden, wurde Fünfter bei den Spielen in Rio - noch immer als Student der Universität Oregon. Ein Ausnahmeathlet, pfeilschnell, dekoriert mit College-Titeln im Sprint, nebenbei einer der besten Passempfänger der Footballauswahl. "Ich hatte so viele Teamkollegen damals, die großartige Hochspringer, Sprinter oder Kugelstoßer hätten werden können, weil viele Komponenten in beiden Sportarten ähnlich sind", sagte Allen zuletzt. "Aber sie haben sich auf Football fokussiert, das ist halt populärer." Und ein ganz klein wenig lukrativer, was die Entlohnung betrifft.
2022 soll es mit der Medaille etwas werden - später will er nicht zum Football wechseln
So reicht ist noch immer der Pool an Talenten im College-Sport, dass hie und da halt mal ein Beinahe-Hürden-Weltrekordhalter abfällt. (Trey Cunningham, der aktuelle Collegemeister, gewann die 110 Meter Hürden zuletzt in 13,00 Sekunden.) Und wer sich durchsetzt in diesem gewaltigen Gerangel, bricht nicht nur mit einem Abschluss, sondern auch einem ordentlichen Ausrüstervertrag ins Profileben auf, selbst in der Leichtathletik. Gina Lückenkemper, die seit 2020 in Florida bei Lance Brauman trainiert, sagte zuletzt im Gespräch, dass das System bereits im College-Unterbau tief im Dienst der Professionalität stehe: "Dadurch haben amerikanische Athleten eine ganz andere Denkweise. Viele Athleten haben in Deutschland gar nicht die Möglichkeit dazu, weil das Sportsystem nun mal so ist, wie es ist." Mit Studium oder Bundeswehr-Diensten während der Hochleistungsphase etwa.
Allen fiel sein Glück freilich auch nicht zu. Nach zwei Kreuzbandrissen hatte er erst mal genug vom Football. 2017 begann er seine Karriere als hauptberuflicher Leichtathlet, 2019 wurde er WM-Siebter in Doha, im Vorjahr Vierter bei den Tokio-Spielen, in 13,14 Sekunden, nur eine Zehntelsekunde hinter Olympiasieger Hansle Parchment aus Jamaika. Ein gewaltiges Niveau, aber das habe ihn nur angestachelt: "Wenn du über die Hürden sehr lange sehr konstant bist und es dann richtig Klick macht", findet Allen, "kannst du schnell ein, zwei Zehntelsekunden schneller sein."

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Christine Kopp, Sportmedizinerin am Universitätsklinikum Tübingen, berät seit Jahren Athleten mit Untergewicht und Essstörungen. Ein schnelles Einschreiten ist wichtig, mahnt sie - um lebenslange Gesundheitsschäden zu vermeiden.
Das widerfuhr ihm dann im vergangenen September, in 12,99 Sekunden in Zagreb. Zum einen steuere er seit dem damaligen Sommer die erste Hürde nicht mehr in acht, sondern in sieben Schritten an; er müsse so nicht mehr leicht bremsen, sondern gleite wagemutiger und schneller über das Hindernis. Zum anderen habe er in diesem Sommer zwei offene Posten zu begleichen: 2022 sei das letzte Jahr, in dem es was werden kann mit der ersten internationalen Medaille. Später könne und wolle er jedenfalls nicht zum Football wechseln.
Renaldo Nehemiah lief in den Achtzigerjahren auch über Hürden und dann in der NFL auf
Allen hat einen prominenten Vorgänger: Renaldo Nehemiah, der 1981 als Erster unter die 13-Sekunden-Barriere tauchte (in 12,93), sich dann als Footballprofi bei den San Francisco 49ers versuchte, eher schlecht als recht. Allen indes ist tief in dem Spiel verwurzelt, auch wenn er es seit fünf Jahren nicht mehr professionell ausgeübt hat. "Es schadet jedenfalls nicht, so schnell wie noch nie in meinem Leben zu sein", sagte er in Oslo.
Und so ganz wolle er die Leichtathletik ja auch nicht verlassen, Olympia 2024 trage er schon noch im Kopf. Vielleicht, sagte Allen mit bestem Zahnpastalächeln, dann ja mit Sondergenehmigung seines Football-Coaches.