Die Schnelligkeit steckt allein in ihren Beinen. Darauf legt Elaine Thompson-Herah wert; die dreifache Gold-Gewinnerin wollte sich ihre Errungenschaften in Tokio nicht durch die Turbo-Bahn im Nationalstadion oder die High-Tech-Schuhe klein reden lassen. Sie trainiere hart, sagte die 29-jährige Jamaikanerin. Nur so wird man Olympiasiegerin, oder nicht? Wobei ihr mittlerweile doch die Erklärungen fehlen dafür, was sie so veranstaltet: Nachdem sie kürzlich die 100 Meter in 10,54 Sekunden bestritten hatte, sagte sie: "Ich bin etwas überrascht, weil ich in fünf Jahren nicht so schnell gerannt bin." Und das war noch untertrieben.
100-Meter-Finale der Frauen:"Alles ist möglich"
Die Jamaikanerin Elaine Thompson-Herah bricht den 33 Jahre währenden olympischen Rekord der Amerikanerin Florence Griffith-Joyner über 100 Meter - nun will sie den Weltrekord jagen.
So schnell gerannt ist sie schließlich noch nie: Nur um 0,05 Sekunden verpasste sie vor Kurzem in Eugene den Weltrekord, der 33 Jahre alt und nicht mit irgendeinem Namen verbunden ist. Wer mit diesem Weltrekord flirtet, der muss sich bewusst sein, in welche Gesellschaft er sich begibt. Denn in kaum einem anderen Namen verdichtet sich das dunkle Kapitel der Leichtathletik so sehr wie in dem von Florence Griffith-Joyner.
Der Aufstieg der US-Amerikanerin begeisterte ihre Landsleute in den 1980er Jahren so sehr, wie ihr Tod im Alter von nur 38 Jahren die Szene erschütterte. "Niemand kann so schnell rennen", hört man den Reporter sagen, der 1988 ihren Rekordlauf kommentierte und der wie viele für unmöglich hielt, was auf der Anzeige stand: Bei den US-Trials im Juli in Indianapolis leuchteten 10,49 Sekunden auf. Schon im Vorlauf hatte die damals 28-jährige Griffith-Joyner den Weltrekord auf 10,60 Sekunden gedrückt. Dann, im Viertelfinale, verbesserte sie die alte Bestmarke von Evelyn Ashford gleich um 0,27 Sekunden: Mit einem Lächeln lief Griffith-Joyner ins Ziel, mit einem erschütternden Vorsprung vor ihren Kolleginnen. 10,49 Sekunden, das war eine Zeit, die bis ins nächste Jahrhundert halten müsse, stand in den Zeitungen. Es war eine mächtige Steigerung von Griffith-Joyner auf 100 Meter: Im Vorjahr hatte ihre Bestzeit noch bei 10,96 Sekunden gelegen.
Ein paar Wochen später bei den Olympischen Spielen in Seoul war Flo Jo - man hatte ihr einen flüssigeren Spitznamen verpasst - ein Star der Spiele. Sie bestätigte ihre Fabelzeit in 10,54 Sekunden, knackte auch über 200 Meter den Weltrekord (21,34 Sekunden). Doch dass sie das allein mit Talent und harter Arbeit geschafft hatte, kam damals schon manchem viel zu märchenhaft vor. "21,34 Sekunden für eine Frau, da lachen ja die Hühner", zweifelte Leichtathletik-Trainer Bert Sumser ihre Leistungen an, ihre Bestmarke lag zuvor bei 21,96 Sekunden. Sumser bezeichnete die Olympiasiegerin gar als "Aktionärin am Börsenmarkt des manipulierten Hochleistungssports". Natürlich müsse man erst die Dopingproben abwarten, ergänzte er.
Nur wenige Monate nach ihren Olympiasiegen trat sie zurück
Sie trainiere eben wie ein Mann, konterte Griffith-Joyner auf die Verdächtigungen ihrer Zeit, sie hatte sich hochgearbeitet aus dem Ghetto in die Herzen der Amerikaner. Über ihre bis zu 16 Zentimeter langen Fingernägel und grellen Outfits schrieben die Reporter ganze Absätze, Griffith-Joyner wusste sich zu inszenieren: Ihr Haar folgte ihr wie ein Kometenschweif, oft trug sie ein langes Hosenbein und ein kurzes oder gar keines an ihren engen Rennanzügen. Ihre Aufmachung war eine gekonnte Ablenkung von den Muskelbergen und manchem Flaum über der Oberlippe. In einer Werbekampagne ließ sie sich mit Milchbart ablichten, "Wo ist dein Bart?" stand darunter.
Regelmäßige Dopingkontrollen abseits von Wettkämpfen gab es damals nicht. Mindestens acht Jahre lang konnte Sprinter Ben Johnson unentdeckt Pillen schlucken, bevor ihn ein positiver Anabolika-Test zwei Tage nach seinem Gold-Sprint 1988 in Seoul entlarvte. Nach den üblichen Dementis räumte er Doping ein, das schon, wobei bis heute unklar ist, ob Johnsons Clan das fragliche Steroid vor Seoul zu spät absetzte - oder ob ihm jemand etwas vor der Kontrolle unterjubelte, wie Johnson bis heute mutmaßt. Sein Trainer Charlie Francis plauderte später jedenfalls freimütig über den Betrug in der Szene, belastete auch Griffith-Joyner. Der neunmalige Olympiasieger Carl Lewis, selbst bei den Trials 1988 positiv getestet, schrieb in seiner Biografie: "In der Welt der Leichtathletik hatte die Meinung, dass Florence gedopt war, Allgemeingültigkeit." Nur wenige Monate nach ihren Triumphläufen bei Olympia beendete sie ihre Karriere. Gleichzeitig mit der Verschärfung der Dopingkontrollen. Ein Zufall? Eine positive Probe ist von ihr nie aufgetaucht. Marion Jones, die 2007 wegen Dopings in einem texanischen Gefängnis saß, kam nie an ihre Zeit heran.
Nachdem Florence Griffith-Joyner im September 1998 von ihrem Mann tot im Bett aufgefunden worden war, meldeten sich weitere Ärzte und Teamkollegen, die sie einst mit verbotenen Substanzen versorgt oder gesehen hatten. Die Autopsie ihrer Leiche hätte weiter Aufklärung bringen können, doch Berichte über Untersuchungen auf Steroide und Wachstumshormon wurden nie publik. Griffith-Joyner sei in Folge eines epileptischen Anfalls im Schlaf erstickt, hieß es schließlich. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sie einen Schlaganfall erlitten. Plötzliche Leistungsexplosion, auffällige körperliche Merkmale, schneller Rücktritt, früher Tod - und das alles in der Hochzeit des Anabolika-Konsums.
Es sei ihr Job, eine "Generation zu inspirieren", sagt Thompson-Herah, "ich muss den Job erledigen"
Und dann kommt ja auch noch dazu: Diese 10,49 Sekunden, die Elaine Thompson-Herah da gerade angreift, wären mit funktionierender Windmessung wohl kaum regulär gewesen. 0,0 Meter Wind pro Sekunde zeigte das Gerät 1988 in Indianapolis an, obwohl beim gleichzeitig stattfindenden Finale der Dreispringer unmittelbar vor dem Weltrekordrennen 4,3 Meter pro Sekunde Rückenwind gemessen wurden. Es war ein stürmischer Tag, ein australischer Forscher hielt Jahre später in einem vom Leichtathletik-Weltverband beauftragten Gutachten fest, dass ein technischer Fehler am Windmessgerät vorgelegen habe.
Bis zu diesem Sommer war zwölf Jahre lang keine Frau unter 10,70 Sekunden geblieben, nun stießen die beiden Jamaikanerinnen Shelly-Ann Fraser-Pryce (10,63) und Thompson-Herah wieder in die sensibelsten Bereiche der Rekordliste vor. Stoff zum Staunen bot die jüngere Thompson-Herah auch beim Olympiasieg über 200 Meter: Seit 2017 hatte sie die diese Distanz nicht mehr unter 22 Sekunden bestritten, bei ihrem Goldlauf in Tokio kam sie auf 21,53 Sekunden.
Am Donnerstag beim Diamond-League-Meeting in Lausanne steht das nächste Rennen an, und Thompson-Herah wähnt sich auf einer Mission. Es sei ihr Job, eine "Generation zu inspirieren. Ich muss den Job erledigen." Dabei ist es mindestens eine zweifelhafte Geschichte, der sie hinterherjagt. Und vermutlich auch eine tragische.