Gina Lückenkemper war 15, als sie ihre ersten internationalen Titelkämpfe bestritt, die U-20-WM in Barcelona, zehn Jahre ist das mittlerweile her. Drei Jahre später war sie schon bei der WM der Erwachsenen in Peking dabei, wie bei den Weltmeisterschaften 2017 und 2019, den Sommerspielen 2016 und 2021. Man vergisst rasch, wie prall ihr Briefkopf gefüllt ist, wenn man bedenkt, dass Lückenkemper im November erst 26 Jahre alt wird.
Aber in der Leichtathletik sind selbst zehn Jahre Berufserfahrung längst nicht genug, um alle Schrullen dieses Sports zu erleben, und am Sonntag, am dritten Wettkampftag der WM in Eugene, war es mal wieder so weit: Drei Mal kletterten Lückenkemper und ihre Mitstreiterinnen im Halbfinale über 100 Meter in den Block, ehe ihr Lauf freigegeben wurde.
Früher, in Zeiten der alten Fehlstartregel, hätte das wenig Nachrichtenwert generiert, aber jetzt führt jedes vorzeitige Davonpreschen in den Einzeln zum Ausschluss. Entsprechend aufgebracht war Lückenkempers Konkurrentin Tynia Gaither von den Bahamas, als man ihr hinterbrachte, dass sie wegen ihres voreiligen Starts disqualifiziert sei.
Erst protestierte Gaither, dann das Publikum. Es schrie und pfiff auch noch, als die Athletinnen bereits im Startblock saßen, zum zweiten Anlauf. Sie könne den Furor von Athletin und Anhang ja verstehen, sagte Lückenkemper später, "aber dass das Publikum seinen Unmut noch mal so laut klargemacht hat, wenn wir schon in den Block geschickt wurden, fand ich einfach unsportlich".
Ob sie es ohne Theater ins Finale geschafft hätte? Schwer zu sagen. 10,95 Sekunden hätten gereicht, gleichbedeutend mit Lückenkempers Bestzeit, kein Ding der Unmöglichkeit, nachdem sie in Berlin zuletzt 10,99 Sekunden angeboten hatte. 11,08 Sekunden wurden es schließlich, "nicht das, was ich mir hier vorgenommen hatte", sagte sie. Am Ende entschied sie sich, trotz des Bittergeschmacks, mit dem Halbfinale und Platz 13 im Gesamtklassement "alles in allem zufrieden" zu sein.
Andere hätten vielleicht gehadert damit, wieder knapp das WM-Finale verpasst zu haben. Aber wenn man Lückenkemper richtig verstand, war sie auch deshalb zufrieden, weil die Nähe zu den Weltbesten auch davon erzählte, dass sie im Grunde auf dem richtigen Weg ist. Es ist noch nicht lange her, da musste sie sich anhören, dass ihr Umzug ins Camp von US-Trainer Lance Brauman in Florida wenig gebracht habe, dass sie sich zu wenig im Wettkampf zeige, trotz diverser kleiner Verletzungen. Lückenkemper wusste freilich, dass die Leichtathletik ein Wartespiel ist, wie beim Gärtnern, bis die Saat des Trainings aufgeht, vergehen oft Monate.
Platz zehn von Stabhochspringerin Jacqueline Otchere ist das bislang beste deutsche Ergebnis
Ronald Stein, der Bundestrainer, hatte vor etwas mehr als einem Monat noch gesagt, er wäre in diesem Sommer mit 11,15, maximal 11,05 Sekunden zufrieden - die 25-Jährige hatte ja erst wieder ein halbes Jahr an vollwertigem Training hinter sich. Lückenkemper sagte nun indes, ihr Aufschwung habe sie kaum überrascht, das habe sich schon vor Monaten im Training gezeigt. So oder so: "Ich kann mit dieser Saison bereits jetzt schon sehr zufrieden sein", sagte sie, "weil so konstant so schnell bin ich in meiner ganzen Karriere noch nicht gelaufen." Sie meinte: 11,21, 11,04, 10,99, nun 11,08, und die EM in München wartet ja noch.
Nicht, dass ihr die Arbeit ausgeht, bis dahin und überhaupt: Ihr Start war auch in Eugene der langsamste im Feld, und die 200 Meter, nebenbei ein gutes Training für die vielen Runden bei großen Meisterschaften, hat sie im Wettkampf seit fünf Jahren nicht mehr ausprobiert. Für die EM wird es auch sportlich, in Eugene waren vier Europäerinnen schneller, allen voran die Britin Dina Asher-Smith in 10,83, britischer Rekord. "In München wird neu angegriffen", sagte Lückenkemper. Erst einmal gelte der Fokus ohnehin der Sprintstaffel in Eugene. Da habe sie wohlwollend vernommen, dass Alexandra Burghardt nach Verletzungssorgen langsam wieder in Schwung kommt, in 11,29 Sekunden im Vorlauf.
Für das Gros der deutschen Delegation galt das zum Abschluss des ersten WM-Wochenendes nicht: Die Diskuswerfer verabschiedeten sich geschlossen in der Qualifikation, Stabhochspringerin Jacqueline Otchere, die kurzfristig zur WM nachgerückt war, schaffte nach 4,50 Metern in der Quali im Finale nicht die erhofften 4,60. Platz zehn mit 4,45 Metern war trotzdem respektabel - und bis zum Sonntag der bislang beste deutsche Ertrag.