Jeder Zaubertrick besteht aus drei Teilen. Zu Beginn wird dem Publikum etwas meist Gewöhnliches präsentiert, ein Tuch, ein Hase, ein Zylinder. Die Zuschauer können auf die Bühne kommen, alles anfassen, sich davon überzeugen, dass der Hase auch echt ist, atmet. Dann geschieht der Effekt. Der Hase verschwindet. Die Zuschauer staunen, aber sie applaudieren noch nicht. Denn etwas verschwinden zu lassen, das macht noch keinen Zaubertrick aus. Was fort war, muss wieder zurückgebracht werden. Deshalb folgt der dritte Akt, der schwierigste Teil, das Finale. Man nennt ihn, wie man es seit Christopher Nolans Thriller weiß, Prestigio.
Vor allem aber, das trennt die Illusion von der Magie, war der Hase in Wahrheit niemals fort.
Hamilton in der Formel 1:Der Mann, der ihm die Schmerzen zufügte
Nach dem denkwürdigen Finale der Formel-1-Saison tauchte Lewis Hamilton für zwei Monate ab. Nun ist er zurück - und dürfte mit Spannung ein Urteil über Rennleiter Michael Masi erwarten.
Bei Lewis Hamilton dauerte die Illusion 68 Tage. So lang wähnten zumindest Teile des Publikums den Rennfahrer verschwunden, seit er am dritten Advent nach einer umstrittenen Safety-Car-Entscheidung des Rennleiters Michael Masi auf dramatische Weise und in der letzten Runde den zuvor sicher geglaubten WM-Titel entrissen bekommen hatte. Gut, der Privatmann Hamilton hatte sich danach von Prinz Charles in Schloss Windsor noch zum Ritter schlagen lassen. Aber der Formel-1-Pilot Hamilton war verschollen. Er schwänzte die Pressekonferenz des neuen Weltmeisters Max Verstappen sowie die Saison-Abschlussgala, und auch seine Profile in den Sozialen Medien tauchte er in ungewohntes Schweigen. Bis er nun am Freitag wieder da war, und in einem fulminanten Prestigio neben dem neuen Silberpfeil posierte, lächelte und sprach: "Ich habe nie gesagt, dass ich aufhören würde. Ich liebe, was ich tue."
Jedes Wort war wahr. Weg war er nie. Die perfekte Illusion.
Selbstverständlich, er habe Zeit gebraucht, um die Ereignisse aufzuarbeiten, sagte Hamilton später auf einer Pressekonferenz. Er weile gerade in England, das Wetter sei "kalt und grau, typisch britisch". Es passte insofern zu seiner Gemütslage nach dem letzten Rennen der Saison 2021, da habe er den Stecker ziehen müssen, abgeschaltet. Seine ganze Familie habe er im Winter um sich versammelt. "Und es gab einen Moment, an dem ich das Vertrauen in das System verloren habe", erzählte er jetzt. "Rechenschaftspflicht" sei auch in der Formel 1 elementar. Und deshalb gelte es nun, "sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passiert in der Geschichte unseres Sports". Er meinte: Dass einem Rennfahrer auf unrechtmäßige Weise der Titel entrissen wird - wie ihm.
Michael Masis Aufgabe teilen sich nun der Deutsche Niels Wittich und Eduardo Freitas aus Portugal
Nun beschäftigt Teile der Szene noch immer die Frage, wie viel Einfluss Hamiltons Abschieds-Illusion hatte auf die wegweisenden Entscheidungen, die der Automobilweltverband Fia getroffen hat in der Zeitspanne zwischen Hamiltons Ab- und Auftauchen. Präziser: Die er verkündete just am Tag vor Hamiltons Rückkehr auf die Bühne. Wochen, nachdem die Fia eine eigene Kommission eingesetzt hatte zur Aufarbeitung der chaotischen Umstände in Abu Dhabi.
So wurde am Donnerstag ein Vier-Punkte-Plan öffentlich, der unter anderem die Entscheidung enthielt, dass Renndirektor Michael Masi seinen Posten räumen muss. Zudem werden die neuen Renndirektoren - Masis Aufgabe teilen sich künftig der Deutsche Niels Wittich und Eduardo Freitas aus Portugal - von einer zentralen Kommandozentrale ähnlich dem Video-Assistenten im Fußball unterstützt. Nur wird die für die Formel 1 zuständige Instanz nicht aus Köln observieren, sondern aus Paris. Und vermutlich auch nicht aus einem Keller. Die Maßnahmen seien ein wichtiger "erster Schritt", befand Hamilton.
Frage an Toto Wolff, Teamchef von Mercedes: Ist Masi ein Bauernopfer, das Mercedes gefordert hat als Bedingung dafür, dass der Rennstall darauf verzichtete, den Rechtsweg zu Ende zu beschreiten, um das Rennergebnis von Abu Dhabi zu kippen? Ganz und gar nicht, sagte Wolff: "Unser Verzicht auf eine Revision war nie gekoppelt an eine Forderung, dass jemand gehen muss." Es sei vielmehr so: "Veränderungen der Struktur waren notwendig." Die Entscheidungen der Rennleitung hätten grundsätzlich sehr stark polarisiert. "Abu Dhabi war nur der Höhepunkt einer Reihe von unkonventionellen Entscheidungen. Mit einem dramatischen Ende - das dem Sport nicht gutgetan hat."
Lebt nicht manche gute Illusion davon, dass der Blick des Zuschauers vom Hut abgelenkt wird auf die Umgebung?
Personelle Veränderungen, sagte Wolff, würden "allein der Fia obliegen". Und der neue Verbandspräsident Mohammed Ben Sulayem lasse "sich nicht reinreden". Im Übrigen habe auch er nie Zweifel daran gehabt, dass Hamilton weiterfahren würde. "Uns war immer klar, dass ein Rücktritt nicht stattfinden wird", sagte Wolff. Im Dezember allerdings hatte der Teamchef diese Zweifel nicht aktiv ausgeräumt. Da hatte er gesagt: "Ich hoffe sehr, dass wir ihn wiedersehen. Es wäre ein Armutszeugnis für die ganze Formel 1, wenn der beste Fahrer wegen hanebüchener Entscheidungen beschließt aufzuhören." Es hätte im Winter nur eines kurzen Zurufs Hamiltons aus dem Zauberhut bedurft, alle hätten gewusst, dass der Formel-1-Fahrer noch da ist. Nur die Illusion hätte es zerstört.
Den politischen Funkverkehr zwischen Rennleitung und Teams werden die Zuschauer künftig nicht hören
Der Umstand, dass Masi zwar seinen Posten verliert, ihm jedoch eine alternative Beschäftigung bei der Formel 1 beschafft werden soll, zeigt, dass die Schuldfrage nicht so eindeutig zu klären war. Er habe "einen sehr herausfordernden Job bewältigt", attestierte Präsident Sulayem dem Australier, der das verantwortungsvolle Großamt vom kurz vor Beginn der Saison 2019 verstorbenen Charlie Whiting sehr kurzfristig geerbt hatte.
Und gewiss ist Masi auch zum Opfer einer Regeländerung geworden, die sich als toxisch erwiesen hat für das Ansehen eines Sport-Schiedsrichters: die vogelwilde Idee, dass der Funkverkehr zwischen Teamchefs und Rennleitung als zusätzliches Unterhaltungs-Gimmick dem TV-Zuschauer zugänglich gemacht wurde. Dieses herrliche Knallbonbon hatte schon in den Rennen vor Abu Dhabi für viele heitere Momente gesorgt. Letztlich aber konnte die Öffentlichkeit nur deshalb so gnadenlos über Masi herfallen, weil er nicht nur wegen seiner Taten angreifbar geworden war, sondern auch wegen seiner Worte.
Vor allem die britischen Medien hatten zuletzt einen Funkspruch von Red Bulls Sportdirektor Jonathan Wheatley rauf und runter gespielt, der den Verdacht nahelegte, Masi habe sich nicht nur die Rechtfertigung seiner Entscheidung, sondern auch die Worte zur Begründung dieser bei Wheatley geliehen. In diesem Spruch rät er Masi, wie er mit den überrundeten Autos verfahren solle, die sich während der finalen Safety-Car-Phase zwischen Hamilton und Verstappen befanden. "Du musst sie nur aus dem Weg schaffen, und schon haben wir ein Autorennen." Im englischen Wortlaut sagte Wheatley: "You only need to let them go, and then we've got a motor race on our hands."
Formel 1:Nächster Schritt: Ersatzfahrer
In seiner Premierensaison in der Formel 1 hat Mick Schumacher trotz eines unterlegenen Autos überzeugt. Für 2022 wird er von Ferrari befördert - der Rennstall hat große Pläne mit ihm.
Als Masi dann exakt so handelte - also nur die fünf Fahrer zwischen Hamilton und Verstappen nach vorne fahren, diese sich aber nicht komplett zurückrunden ließ, weil es zu lange gedauert hätte, um das Rennen abermals zu starten -, da ereiferte sich Wolff unmittelbar und rief in sein Mikrofon, diese Entscheidung sei "so so not right". Woraufhin Masi dem Mercedes-Teamchef erwiderte: "Toto, it's called a motor race, okay?" A motor race. Derselbe Wortlaut.
"Erst hieß es, die Autos dürften sich nicht zurückrunden, drei bis vier Minuten später hieß es plötzlich wie aus dem Nichts, sie dürften doch", erzählte Wolff am Freitag. "Jetzt wissen wir, was in der Zwischenzeit passiert ist." Offensichtlich meinte er die Beeinflussung Masis durch Wheatley.
Zwei weitere Entscheidung enthielt der Vier-Punkte-Plan Sulayems deshalb: Den politischen Funkverkehr zwischen Rennleitung und Teams werden die Zuschauer künftig nicht hören. Damit Masis Nachfolger wie schon Masis Vorgänger wieder Entscheidungen treffen können nach Beratungen im geheimen Kämmerlein. Zweitens soll das teils widersprüchliche Regelwerk zum Zurückrunden der Autos während einer Safety-Car-Phase so klar gefasst werden, dass die Rennleitung eine präzise Anleitung in den Händen hält. Nur Michael Masi helfen diese Novellen nicht mehr.
Und jetzt, da Lewis Hamilton putzmunter aus dem Hut gesprungen ist, verspürt er sogleich Lust, die Welt aus den Angeln zu heben. "Was dich nicht umbringt, macht dich nur stärker", sagte er: "Ich bin darauf fokussiert, der Beste zu sein, der ich sein kann." Dieser beste Hamilton überhaupt sei im "Attacke-Modus", glaubt auch Toto Wolff. Das Kaninchen hat Lust zu zaubern.