Titelkampf in der Formel 1:Verstappen und das fliegende Plastikvisier

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Momentan unbezwingbar: Max Verstappen fährt in Belgien bereits zu seinem neunten Saisonsieg. (Foto: John Thys/AFP)

Der Titelkampf in der Formel 1 scheint entschieden zu sein - zu frappierend ist die Überlegenheit von Red Bull gegenüber Ferrari. Und dann zwingt Max Verstappen seinen Konkurrenten Leclerc auch noch unfreiwillig an die Box.

Von Anna Dreher, Spa-Francorchamps

Als die Pokale in die Luft gestemmt und der Champagner verspritzt waren, kam Max Verstappen nach seinem Sieg beim Großen Preis von Belgien auch auf diese eine Szene zu sprechen. Ein Moment, der belegte, dass dem 24-Jährigen und Red Bull gerade alles zu gelingen scheint. Es war ein unabsichtlicher Schachzug, der bestens ins Bild passt, das sich von dieser Saison abzeichnet: Dass der amtierende sehr wahrscheinlich auch der künftige Weltmeister sein wird, die Konkurrenz schaut zu und staunt.

Die erste Runde von Spa verlief hektisch mit diversen Duellen. Verstappen war wegen eines unerlaubten Motorenwechsels wie einige andere von hinten gestartet. Bei seiner Aufholjagd von Platz 14 aus bekam er im engen Mittelfeld jede Menge aufgewirbelten Staub und Dreck entgegengeschleudert. In der Formel 1 gibt es hierfür eine einfache Lösung: Wenn ein Fahrer nicht genug sieht, zieht er eine von mehreren Folien am Visier ab und wirft sie weg. Verstappen hatte wieder freie Sicht, bald im doppelten Sinne, denn er flog geradezu an allen vorbei, bis er führte und locker-lässig vor Teamkollege Sergio Perez und Ferrari-Pilot Carlos Sainz gewann.

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Seine Visierfolie war dabei allerdings nicht in einem Kiesbett oder auf einer Wiese gelandet, sondern höchstwahrscheinlich geradewegs hinein in die Bremsbelüftung von Charles Leclerc gezogen worden. Jener Pilot, der Verstappen gerne als Titelträger ablösen würde. Also musste Leclerc unplanmäßig früh an die Box und fiel deshalb zurück. "Ich hoffe, es war nicht meins", sagte Verstappen: "Es ist total unglücklich. Das ist dein schlimmster Albtraum, dass so etwas passiert."

Ferrari wird in Spa von Red Bull deklassiert, Sainz kommt fast 27 Sekunden nach Verstappen ins Ziel

Der Niederländer bremste seinen Konkurrenten damit sogar doppelt aus: Ein Sensor am F1-75 überhitzte wegen des Fremdkörpers, wodurch die Geschwindigkeitsanzeige laut Ferrari-Teamchef Mattia Binotto nicht mehr stimmte. Als Leclerc zwei Runden vor Schluss zum dritten Mal an die Box kam, um mit frischen Reifen bessere Chancen auf den Punkte-Bonus für die schnellste Runde zu haben, fuhr er Binotto zufolge 0,1 Stundenkilometer zu schnell und rutschte aufgrund der dafür erhaltenen Zeitstrafe auf Platz sechs ab. Aber auch ohne diesen kuriosen Vorfall wäre er nicht am mutmaßlichen Besitzer des verhängnisvollen Visiers vorbeigekommen. Nun ist er hinter Verstappen (284) und Perez nur noch Dritter der Gesamtwertung - mit 98 Punkten Rückstand auf den Führenden. In den vergangenen neun Rennen glückte ihm nur ein Podiumsplatz.

Besorgt und auch ein wenig ratlos: Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. (Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP)

Acht Termine und ein Sprintrennen stehen noch aus, aber die WM ist im Prinzip entschieden. Während Verstappen 2021 in einem umstrittenen Finale bis auf die letzten Meter gegen Lewis Hamilton um den Titel kämpfen musste, dürfte er diese Saison frühzeitig reüssieren. Neun von bisher 14 Grand Prix hat er gewonnen, wahrscheinlich knackt er den Rekord von 13 Triumphen in einem Jahr, den sich aktuell Michael Schumacher und Sebastian Vettel teilen. Red Bull deklassierte Ferrari in Spa, die Überlegenheit war frappierend. Sainz kam fast 27 Sekunden nach Verstappen und neun Sekunden hinter Perez ins Ziel. "Es gab einen echten Performance-Unterschied", räumte Binotto ein. Er blieb - wie selbst in Krisen immer - ruhig, wirkte aber doch besorgt und ratlos: "Der Red Bull ist einfach ein schnelleres Auto." Eine Erklärung, die der 52-Jährige bereits bemüht hatte, nachdem Verstappen in Budapest von Platz zehn zum Sieg gefahren war.

Zu Beginn dieser Saison lag Ferrari noch in Front. Es sah ganz danach aus, als hätte sich endlich wieder eine Kombination aus Mensch und Maschine gefunden, um nach 2007 die besonders begehrte Trophäe nach Maranello zu holen. Aber nach technischen Problemen am eigentlich starken Auto sowie mehreren strategischen und fahrerischen Fehlern ist der Vorsprung längst verspielt. Am Sonntag kam Pech dazu. Und nun, alles vorbei? "Es sieht sehr schwierig aus, besonders mit dem Tempo, das Red Bull dieses Wochenende gezeigt hat, wird es sehr, sehr schwierig", sagte Leclerc, der in Spa lange mit seinem Renningenieur über die Taktik debattiert hatte. "Wir waren einfach nicht stark genug verglichen mit ihnen", sagte Sainz: "Sie waren dieses Wochenende auf einem anderen Planeten."

"Max war schlichtweg in seiner eigenen Liga, das ganze Wochenende", sagt Teamchef Christian Horner

Auf diesem Planeten ist es gerade sehr schön. Das Team hat den Entwicklungsrückstand aufgeholt und ist also vielleicht sogar gleich in eine eigene Galaxie umgezogen. "Ich denke, unser Auto ist sehr effizient", sagte Verstappen. Red Bull war schnell auf den Geraden, stark in den Kurven, besser im Reifenmanagement. Besonders den höheren Verschleiß machte Ferrari als Problem aus. Während der spätere Sieger 15 Umdrehungen über den Kurs in den Ardennen auf der weichen Gummimischung fuhr, gestand Sainz: "Meine waren quasi schon nach drei Runden am Ende." Ferrari und Mercedes hatten Probleme, die Abstimmung ihrer Autos dem Streckenprofil anzupassen. Der Red Bull kommt besser mit mehr Bodenfreiheit zurecht, die es hier braucht.

Die Red-Bull-Crew feiert den Doppelsieg: Max Verstappen links vom Sombrero-Träger Sergio Perez, daneben Teamchef Christian Horner. (Foto: Dan Mullan/Getty Images)

In der Konstrukteurswertung bringt Red Bull (475) der vierte Doppelerfolg dieser Saison einen Vorsprung von 118 Punkten auf Ferrari (357), das wiederum nur noch 41 Zähler mehr als Mercedes hat. Die Scuderia muss aufpassen, hier nicht auch zurückzufallen. Zu dem durch die Regeländerungen erhofften Dreikampf wird es nicht kommen. Zu stark ist Red Bull, zu unbeirrbar wirkt das Team im Vorhaben, seine Vormachtstellung in der Königsklasse zu wahren. Strategische Patzer sind nicht zu erwarten, der RB18 schnurrt verlässlich, und Verstappen, ja gut, der wirkt ohnehin unbezwingbar. "Max war schlichtweg in seiner eigenen Liga", fand Teamchef Christian Horner: "Seit er die WM gewonnen hat, hat er den nächsten Schritt gemacht. Das hat ihn in vielerlei Hinsicht befreit."

Das alles sei ermutigend, sagte Horner, "aber du darfst dir nie erlauben, zu weit vorauszudenken". Es kommen noch Strecken, die seiner Equipe weniger gut liegen. Andererseits: Nun reist die Formel 1 nach Zandvoort, wo für Verstappen zur bestechenden Form der Heimvorteil hinzukommt. Danach geht es nach Monza, Ferrari-Land. Aber während die Scuderia gegen ihre Schwächen ankämpft, kann Red Bull beruhigt auf seine Stärken vertrauen. Damit beschäftigen die Weltmeister die kriselnde Konkurrenz zusätzlich. Dafür braucht es nicht mal ein umherirrendes Abziehvisier.

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