Englands Nationalmannschaft:Lieber im Urlaub statt im Nationaltrikot

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Schmerzerfüllt zu Boden: Der englische Nationalspieler Conor Gallagher (vorne) wird von Brasiliens Lucas Paqueta gestoppt. (Foto: Alastair Grant/dpa)

England gilt als einer der EM-Favoriten, aber im ersatzgeschwächten Team ist die Stimmung mies - und ein Nationalspieler hat keine Lust mehr zu spielen.

Von Sven Haist

Gleich zu Beginn der Ehrenrunde mussten die englischen Nationalspieler einsehen, dass den Fans diesmal nicht der Sinn danach stand. Die meisten von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt das Wembley-Stadion verlassen. Und so brach das Team den Beifall für die Unterstützung vorzeitig ab und machte sich unverzüglich auf den Weg zum Ausgang - so, wie das Nationaltrainer Gareth Southgate auch schon getan hatte.

Das Stimmungsbild am Samstagabend fasste in gewisser Weise treffend den Gemütszustand der vergangenen Fußball-Woche in England zusammen, in der weniger der Ball als die Debatten zu rollen schienen. Bisweilen wirkte es deshalb, als hätte nicht Brasilien England im Testspiel (1:0) besiegt, sondern England die eigene Nationalelf. Das weckte Erinnerungen an die seit dem WM-Heimsieg 1966 lange titellose Vergangenheit: Meist stand sich das Land bei Fußball-Großereignissen selbst im Weg und brachte sich manchmal sogar zu Fall.

Auch momentan verfügt England wieder über einen angesehenen Auswahlkader, der die Nation zu einem der Favoriten auf den Titel bei der EM in Deutschland macht. Durchweg stehen die wichtigsten Spieler bei europäischen Spitzenklubs unter Vertrag, und das Reservoir an Talenten wirkt ebenso unerschöpflich wie die Geldquellen der Premier League. Gegen Brasilien gab zum Beispiel Kobbie Mainoo von Manchester United sein Debüt für die Three Lions. Dem 18-jährigen Mittelfeldspieler wird wegen seines Spielverständnisses und der Ballbehandlung bereits eine ähnliche Zukunft prophezeit wie Phil Foden und Jude Bellingham.

Allerdings fokussiert sich England in diesen Tagen mehr auf die derzeit verletzten statt einsatzfähigen Nationalspieler - etwa ein Drittel aus dem insgesamt 40 bis 50 Profis umfassenden Pool. Dabei besteht bei den meisten Akteuren kein Anlass für ein mögliches Verpassen des EM-Turniers. Trainer Southgate stufte die Abwesenheitsliste, darunter Kapitän Harry Kane, als die "ohne Frage längste" in seiner siebeneinhalbjährigen Amtszeit ein. Viele Medien widmeten den nicht verfügbaren Spielern ganze Artikel.

Streicheleinheiten: Englands Trainer Gareth Southgate nimmt Jude Bellingham nach dessen Auswechslung in Empfang. (Foto: Alastair Grant/AP)

Die Personalien wurden so ausdauernd diskutiert, dass weitere Blessuren fast wie eine logische Folge wirkten. Tatsächlich musste Rechtsverteidiger Kyle Walker im Brasilien-Spiel früh verletzt ausgewechselt werden, auch Harry Maguire hatte, wie sich hinterher herausstellte, Beschwerden. Dadurch beschäftigt das Mutterland des Fußballs vor dem Vorbereitungsmatch gegen Belgien an diesem Dienstag erneut ein Spieler, der für das Nationalteam de-facto nicht spielen will: Ben White. Englands formstärkster Rechtsverteidiger vom FC Arsenal verzichtete auf die Nominierung und weilt im Urlaub in Dubai, wie die Medien ausführlich dokumentieren.

Seine Absage geht mutmaßlich auf eine Äußerung des Southgate-Assistenten Steve Holland während der WM 2022 zurück, als White nach dem dritten Vorrundenmatch auf eigenen Wunsch aus Katar abreiste. Holland soll White in einem Gespräch vor Teamkollegen eine Frage zum FC Arsenal gestellt haben, die dieser nicht beantworten konnte. Als Reaktion darauf spielte Holland auf Whites vermeintlich "nicht ausreichendes Interesse" für den Fußball an, berichtet der Telegraph. Der 26-Jährige hatte mal erzählt, er liebe zwar das Fußballspielen, verfolge aber grundsätzlich kaum Matches. Southgate bestreitet einen solchen Disput vehement.

Aus Sorge um die eigene EM-Vorbereitung kritisiert Southgate eine "bizarre Welt"

Die unangenehme Angelegenheit konnte Southgate am Freitag kurzzeitig stoppen, indem er die Aufmerksamkeit auf eine andere Sache richtete: die Marketing-Reisen der englischen Vereine. Nach dem Ende der Saison fliegen Newcastle United und Tottenham Hotspur für ein PR-Match nach Australien, angeblich mit Nationalspielern. Aus Sorge um die eigene EM-Vorbereitung kritisierte Southgate eine "bizarre Welt", in der Klubs und Verbände um immer mehr Geld ringen, obwohl davon im Fußball so viel vorhanden sei wie nie. Aus seiner Sicht fänden solche Partien zunehmend statt, weil das Financial-Fairplay-Regelwerk die Klubs zwinge, "ihr eigenes Geld" zu verdienen.

Die allesamt wenig zielführenden Diskussionen rund um die Nationalelf komplettierte die schräg anmutende Meinungsverschiedenheit zum neuen England-Shirt. Sportartikelhersteller Nike hatte auf der Rückseite des Trikotkragens die englische Nationalflagge eingearbeitet - in ungewöhnlichen Farben. So wies das rote Georgskreuz auf weißem Hintergrund diesmal verschiedene Blau-, Violett- und Rottöne auf. Bei der Vorstellung bezeichnete Nike die Umgestaltung als ein "spielerisches Update", um zu vereinen und zu inspirieren.

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Die UK-Politik motivierte das Design jedoch überwiegend zur Ablehnung. Der konservative Premier Rishi Sunak warnte, das Georgskreuz sei eine "Quelle des Stolzes", an der "nicht herumgespielt" werden sollte. Er präferiere das Original, sagte Sunak. Nationaltrainer Southgate fühlte sich in der Kontroverse "verloren" und erklärte diplomatisch, es sei doch "das Wichtigste", dass das "Three-Lions-Logo" auf dem Shirt sei. Dieses Wappen würde das englische Fußballteam von allen anderen Sportmannschaften auf der Welt abheben. Dadurch ging fast unter, dass die Standard- und Original-Version des Shirts 100 respektive 150 Euro kostet. Derart teuer war bisher noch kein Fußballhemd in England.

Weiterführend wollte sich Gareth Southgate nicht zu all diesen unliebsamen Themen äußern, weil er gerade "genug zu tun" habe, das Team aufzustellen. Den Fokus wieder auf den Sport zu richten, dürfte allen Beteiligten indes nicht schaden. Denn gegen Belgien geht es für England darum, die selbst verbreitete schlechte Stimmung wieder zu verbessern.

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