Es war nicht leicht, sich an jede Einzelheit der Partie der Spanier gegen Kroatien vom Montag zu erinnern. Angefangen damit, dass es in einem tumultartigen Achtelfinale gleich acht Tore zu bestaunen gab, die Spanier siegten nach Verlängerung 5:3. Eine Szene jedoch hatte sich Sergio Busquets, dem Kapitän der Spanier, eingebrannt. Sie diente ihm als Beleg dafür, dass Torwart Unai Simón, 24, mental tatsächlich so stark ist, wie er immer behauptet. "Der Spielzug zu unserem 2:1 wurde an seinen Füßen geboren", sagte Busquets. Und das war tatsächlich sensationell.
Zur Erinnerung: In der 20. Minute hatte sich Simón einen Fehler geleistet, der so episch war wie das Spiel noch werden sollte. Einen Rückpass aus digital erfassten 44,8 Metern von Mittelfeldspieler Pedri ließ er über den Fuß hüpfen, der Ball rollte mit der grausamen Langsamkeit, mit der sonst nur Liebesbeziehungen enden, ins Tor.
Spanien bei der EM 2021:Geheilt von der Torallergie
In einem irrwitzigen Achtelfinale gegen Kroatien ziehen Torwart Simón und Mittelstürmer Morata alle Aufmerksamkeit der Spanier auf sich: Zwei zunächst Geächtete, die ihr Team im Turnier halten - und ihren Trainer Luis Enrique vor dem Drachen retten.
In der Folge dieser Szene hätte man mit vielen Dingen rechnen können. Nicht unbedingt damit, dass sich Spaniens Nationalelf von dem Schock erholte, nach zwischenzeitlicher 3:1-Führung in der Nachspielzeit den Ausgleich hinnimmt und doch gewinnt. Und auch nicht hiermit: dass der Ball nach jener fatalen 20. Minute kein einziges Mal mehr an den Füßen Simóns brannte, dass der Torwart die Bälle ruhig und sicher zum Nebenmann spitzelte, ohne den leisesten Anflug von Nervosität. Als sei ihm nichts passiert, schon gar nicht ein Bock, den man aus keiner Erinnerung mehr tilgen kann.
"Ich habe mir die Szene sechs, sieben Mal angeschaut; ich habe mich damit ein bisschen gemartert", sagt Simón
"Ich zeige meine Emotionen kaum, weder nach Traumparaden noch nach einem Fehler", sagt Simón. Dass die Radioreporter von der Tribüne im Parkenstadion zu Kopenhagen Interjektionen der Angst nach Hause funkten ("Uyuyuiiii, Uyuuuyuuuiiiiiii...!"), bekam Simón auf dem Rasen natürlich nicht mit. Im Stadion habe er ausschließlich Unterstützung verspürt, erklärte er am Mittwoch in Sankt Petersburg, wo er am Freitag im Viertelfinale gegen die Schweiz im Tor stehen wird. "Nach so einem Fehler kommen schon negative Gedanken auf", konzedierte er, "wenn aber die Leute fünf Minuten später anfangen, wegen allem und jedem zu klatschen, gibt dir das viel Energie."
Kroatien:Ein letztes Mal?
Nach dem Aus gegen Spanien richten sich die Debatten in Kroatien an zwei Szenen aus der ersten Halbzeit aus - und es steht die Frage im Raum, ob die Partie in Kopenhagen Luka Modrics Abschied war.
Noch mehr Energie gab ihm freilich, dass Spanien tatsächlich siegte. Auf dem Heimweg habe er mit seiner Freundin telefoniert, er kam mit ihr darin überein, dass nicht auszumalen gewesen wäre, wenn das Spiel nicht noch gewonnen worden wäre. Der Fehler an sich sei "ein Unfall gewesen", sagte er mit maximaler Gelassenheit, die Sonne habe ihn nicht geblendet, es gebe keine Ausreden, er habe schlicht den Ball nicht gut kontrolliert.
"Ich habe mir die Szene sechs, sieben Mal angeschaut; ich habe mich damit ein bisschen gemartert." Der Eindruck: Kann man besser machen, beim nächsten Mal. Am Montag ging es nur darum: Mund abputzen. "Die Mannschaft brauchte mich, und ich musste so weitermachen. Ich musste weiter Risiken auf mich nehmen, denn das ist es, was der Míster von mir verlangt", sagte Simón - gemeint war Trainer Luis Enrique.
Simón steht in der Tradition von Luis Arconada oder Andoni Zubizarreta
An vorangegangenen Tagen hatte Simón eingeräumt, dass er sich das Spiel mit dem Ball erst aneignen musste - unter Nationaltrainer Enrique, der ihm "viel über das Spiel mit Ball beigebracht" habe. Simón spielt beim baskischen Traditionsklub Athletic Bilbao; die Einbindung des Torwarts in die Spieleröffnung à la Manuel Neuer oder Marc-André ter Stegen wurde dort bislang eher vernachlässigt.
Das liegt einerseits daran, dass der Verein sehr britisch geprägt ist, der Stil des Fußballs immer ein anderer war. Und andererseits, dass die Basken ihre eigene, sehr produktive Torwartfabrik haben. Ihr entstammen Legenden wie José Ángel "El Txopo" Iríbar, Luis Arconada oder Andoni Zubizarreta. Zehn Prozent der rund 100 Nationalspieler, die von Athletic kamen, waren Torhüter. Ein Zufall?
Mitnichten. Es ist vielmehr dem Einfluss regionaler Begebenheiten geschuldet, und das ist keine Mär. Der Sand der Strände des Kantabrischen Meeres stärkt die Sprungkraft und nimmt die Angst vor den Flügen auf den Boden; an den "Frontones" wird die Reaktionsschnelligkeit geschult. Die "Frontones" sind die berühmten Prellwände, die in jedem baskischen Dorf stehen und wo Pelota gespielt wird: Das ist ein sehr baskischer, mit dem Squash entfernt verwandter Sport. Der Spaß besteht darin, dass man einen lederummantelten, handgefertigten, mit einem Holzkern und Stoff gefüllten Ball gegen eine Wand schleudert. Mit einem korbähnlichen Schläger. Oder mit der flachen Hand.
Auch in Murgia, dem 1000-Einwohner-Ort in der Nähe von Vitoria, in dem Simón aufgewachsen ist, stehen mehrere dieser "Frontones". Doch seine Passion gehörte schon früh dem Fußball, gern auf dem Dorfplatz, der Ball sei dann schon mal in die Fenster der Tapas-Bars geflogen. Strafrechtliche Konsequenzen drohten ihm nicht: Sein Vater ist bei der Guardia Civil, einem paramilitärischen Polizeikorps, die Mutter ist bei der baskischen Regionalpolizei Ertzaintza. Dass er im Tor landete, hatte mit zwei Faktoren zu tun: Er sei faul und großgewachsen gewesen.
Die örtliche Schule verließ Simón recht bald; er war den Spähern von Athletic Bilbao aufgefallen und wurde in die berühmte Fußballakademie Lezama geholt. Doch bis heute kehrt er nach Murgia zurück, sobald das Training beendet ist, er wohnt dort immer noch. Seine Ausbildung als Physiotherapeut brach er ab. Um mit den Freunden von damals "Mus" zu spielen, ein sehr populäres baskisches Kartenspiel. Und wenn sie ihn am Tisch aufziehen sollten, wird er ihnen immer die Worte von Iríbar, alias El Txopo, entgegenhalten können: "Das ist uns allen schon mal passiert."