Fußball-EM:England, wie es trinkt und tanzt

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Ein Land im Rauschzustand: Nach dem Finaleinzug gegen Dänemark gibt es in England kein Halten mehr, etwa am Trafalgar Square in London, aber auch anderswo - trotz Virus und absurder Ticketpreise.

Von Michael Neudecker, London

Am Trafalgar Square haben sie an manchen Stellen der sogenannten Fanzone einen Kunstrasen ausgelegt, tagsüber sieht das ordentlich aus, die Engländer haben ja eine Vorliebe für akkurate Rasenteppiche. Kunstrasen hält einiges aus, was praktisch ist, denn die Engländer haben auch eine Vorliebe für hemmungsloses Ausrasten, wenn die Fußballer gewinnen. Englands Nationalmannschaft hat in den vergangenen 50 Jahren bei Turnieren nicht allzu oft gewonnen, Mittwochabend erreichte sie das erste Mal überhaupt ein EM-Finale, danach ließen die Leute am Trafalgar Square den Kunstrasen Kunstrasen sein. Und, man kann es nicht anders sagen, drehten völlig durch.

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Auf der Straße liefen Fans mit Flaggen und Trikots, schreiend, singend, sie hämmerten auf die Dächer der Autos, die mehr standen als fuhren, die Autos wiederum hupten, der Lärm war ohrenbetäubend. Menschen kletterten auf Laternenmasten, der Brunnen sah aus wie ein gut funktionierender Fliegenfang-Streifen, aneinander und übereinander hingen die Menschen. Drüben, am Piccadilly Circus, hatten die Behörden den Brunnen vorsorglich gesperrt, weil sie Angst um ihn hatten, was die Fans nicht zu stören schien. Sie bestiegen einfach die Doppeldecker-Busse.

Am Leicester Square soll es ähnlich gewesen sein, aus dem Stadtteil Croydon waren Fotos zu sehen, auf denen eine losgelöste und angeblich 40 000 Menschen große Menge im Boxpark biergeduscht regelrecht übereinander herfiel, nachdem Harry Kane das 2:1 erzielt hatte. Ein wenig Ärger gab es an der Tower Bridge, wo die Ordner der dortigen Fanzone vor dem Spiel informierten, dass sie das England-Spiel hier nicht auf der Leinwand zeigen würden: aus Sicherheitsgründen.

England ist nun noch mehr als schon vor dem Halbfinale ein Land im Rauschzustand. Am Donnerstag druckten die Zeitungen zahlreiche Dokumente des landesweiten Gelages, in Birmingham, Sunderland, Manchester und anderswo waren weitere Fanzonen errichtet worden, als bräuchten Fußballfans eigene Gehege, in denen sie sich versammeln. Sie versammelten sich überall, manche trugen Gareth-Southgate-Masken, andere trugen Masken der Royal Family. "Harrylujah" titelte die Daily Mail, und: "Kane you believe it?"

2300 Euro aufwärts kostet ein Ticket fürs Finale

Die "British Beer & Pub Association" beruhigte dieser Tage Besorgte, es könne womöglich der Nährstoff ausgehen: Es sei genug Bier für alle da, sagte ein Sprecher. Der Pub-und-Bier-Verband rechne am Mittwoch den ganzen Tag über mit gut zehn Millionen Pints, die in den Pubs getrunken würden, und mit einem Ausstoß während des Spiels von rund 50 000 Pints pro Minute. Überall hingen England-Fahnen und der britische Union Jack, wozu man allerdings sagen muss, dass in Schottland die Euphorie nicht ganz so groß war. Zwar gibt es auch in Edinburgh jene Fanzonen, in denen das Spiel verfolgt wurde, die Stimmung sei dort aber eher pro-dänisch gewesen, berichtete die Times, und zitierte eine Molly Black, 20 Jahre alt, sie unterstütze Dänemark, einfach "weil ich die Engländer hasse". Ihr Gesinge, der Fußball kehre nach Hause zurück, sei "peinlich".

"Football's coming home" singen die englischen Fans tatsächlich in Dauerschleife, auch am Trafalgar Square war das so, nachts um zwölf. Aber Euphorie kann auch etwas Schönes sein, wenn man nicht gerade Schotte oder Däne ist und den Engländern beim Feiern zuschauen muss. Wie die allgemeine Glückseligkeit, in der sich Fremde in den Armen liegen, zusammenzubringen ist mit einer ja immer noch sehr präsenten Pandemie, das freilich ist eine andere Geschichte.

Am Sonntag sind im Wembley-Stadion erneut 60 000 Fans zugelassen, Tickets waren am Donnerstagvormittag ab 1962 Pfund erhältlich, etwa 2300 Euro. Vor ein paar Monaten, als ein paar superreiche Klubs vor allem aus England eine Super League einführen wollten, um noch mehr Geld umzusetzen, protestierten die Fans in Europa, auch in England, sie hielten Plakate hoch mit der Aufschrift "Created by the Poor, Stolen By the Rich", erschaffen von den Armen, gestohlen von den Reichen. Die englische Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts hat den Fußball einst geprägt, aber das ist lange her.

Jetzt sieht es so aus, dass die Fans bezahlen, was verlangt wird, um dabei zu sein. Sonntag im Wembleystadion ist das erste Finale für England bei einem großen Turnier seit der WM 1966, noch dazu at home: ein Tag, an dem Geschichte geschrieben wird, nichts weniger, ein Tag der Ekstase. Das Stadion wird so voll sein, wie es die Regeln erlauben, daran zweifelt in England niemand.

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