Deutsche Nationalelf:Die Jugend erweckt den Ballverteiler Kroos

Lesezeit: 3 min

  • Nach der enttäuschenden WM in Russland überlegte Toni Kroos noch zurückzutreten.
  • Das Spiel in Frankreich hat ihn nun jedoch erfrischt wie lange nicht. Es dürfte den neuen deutschen Spielstil vorgeben.
  • Wovon Kroos profitiert: Der Ballverteiler bekommt wieder Gelegenheit zu seinen geliebten Steil- und Gassenpässen.

Von Philipp Selldorf, Paris

Als Toni Kroos im Stade de France zu einem weiteren verlorenen Spiel seiner Mannschaft Stellung nahm, fiel plötzlich wieder das schockierende Wort "Rücktritt". "Wenn es so weit ist, dann höre ich besser auf", erklärte der Mittelfeldspieler, der bereits im Sommer im Mittelpunkt von Rücktritts-Spekulationen gestanden und offenkundig tatsächlich übers Aufhören nachgedacht hatte. Außer seinem fünfjährigen Sohn Leon (zum Glück ein Fan der Nationalelf) ist es besonders seiner Frau zu verdanken, dass Kroos die Gedanken an den Rückzug ins Private eingestellt hat. "Schatz, so kannst du nicht abtreten", hatte sie, wie er später berichtete, während der Ferien angeordnet. Gab es jetzt in Paris die unheilvolle Wende?

04:45

DFB-Elf
:Löws Team hat plötzlich wieder Strom

Verjüngung, Leistungsprinzip und taktische Variabilität - mit diesen neuen Trends tut sich der Bundestrainer selbst einen Gefallen. Die Nationalelf liefert endlich frische Bilder.

Von Christof Kneer

Nun, diesmal brauchte Jessica Kroos nicht einzugreifen. Ihr Mann hatte zwar festgestellt, dass ihn auch dieser Abend frustriert und enttäuscht zurücklasse, aber er hat das ausdrücklich als Signal zum Weitermachen interpretiert: Erst wenn es so weit käme, dass er mit einer Niederlage zufrieden wäre, sei es Zeit zum Schlussmachen, sagte Kroos. Allerdings war er sich in diesem speziellen Fall nicht ganz sicher über seinen Standpunkt. In Wahrheit hatte ihm ja dieses 1:2 mindestens so viel Vergnügen wie Verdruss bereitet, das musste er trotz des vorschriftsmäßig beklagten Resultats zugeben. Die Mixtur aus Freud & Leid ließ ihn ein nur scheinbar paradoxes Fazit ziehen: "Es war eine der Niederlagen, die am meisten Spaß gemacht haben."

Nationalelf als Problemfall?

Viele Mitglieder der deutschen Delegation dachten nach diesem Fußballabend ähnlich wie Toni Kroos, 28. Sie freuten sich über den couragierten und lebendigen Auftritt dieser methodisch komponierten Improvisationself, doch sie ärgerten sich über die Niederlage, welche die Nationalmannschaft weiterhin wie einen Problemfall aussehen lässt. Der Ausflug nach Paris bescherte, wie Oliver Bierhoff präzise zusammenfasste, "trotz des schlechten Ergebnisses ein gutes Ergebnis". Es gab also ein Schwärmen im Jammern (respektive umgekehrt), und eindeutig am meisten wurde von dem jungen Offensivtrio geschwärmt, das der Bundestrainer zu einer nie zuvor gesehenen Angriffsreihe montiert hatte.

Serge Gnabry, 23, Timo Werner, 22, und Leroy Sané, 22, bildeten eine brandneue Arbeitsgemeinschaft, die in keiner noch so kühnen Besetzungstheorie bisher vorgekommen war. Bei Bierhoff riefen die schnellen Drei "Stolz und Zufriedenheit" hervor, den Kapitän Manuel Neuer veranlassten sie zur Ode an den Trainer: "Gute Taktik mit 'nem guten System und den richtigen Spielern."

Joachim Löw
:Der Bundestrainer muss zeigen, dass es ihm ernst ist

Joachim Löw darf vorerst im Amt bleiben. Im November gegen die Niederlande aber wird er beweisen müssen, dass er nicht wieder in alte Muster verfällt.

Kommentar von Christof Kneer

Kroos wird in diesem Leben sicherlich kein extrovertierter Schwärmer mehr werden, zur Feier seiner diversen Champions-League-Triumphe mit Real Madrid genügte ihm jedes Mal ein bloßes Lächeln, weshalb es seine jungen Kollegen jetzt als Kompliment auffassen durften, als der langgediente Mittelfeldchef befand: "Die neuen Spieler haben ihre Sache ganz gut gemacht." Die Wirkung, die das Trio auf Anhieb entfaltete, sorgte beim Publikum für ein neues Seherlebnis. So viele Tempoläufe wie allein Sané in der ersten Halbzeit unternahm, schien die DFB-Elf während der kompletten (zugegebenermaßen recht kurzen) WM nicht zusammengebracht zu haben. Werner und Gnabry bereiteten den Hausherren kaum weniger Stress.

Die Franzosen schienen sich auf einen gemütlichen Abend in ihrem nationalen Wohnzimmer eingerichtet zu haben und reagierten etwas perplex angesichts der extrem betriebsamen deutschen Grünschnäbel. "Wir konnten sie überraschen", hatte Neuer beobachtet. In ihrem Eifer vergaßen die Drei allerdings ein paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel, dass man die Überfall-Angriffe so zu Ende spielen sollte, dass der Ball im Tor liegt. So ist an diesem Abend für das Publikum zwar eine gewisse Sehnsucht befriedigt worden: Nachdem in den prägnanten Partien dieses Jahres der gepflegte Stillstand das Markenzeichen war, hat das deutsche Spiel in Paris endlich Beschleunigung erfahren.

Eine andere, mindestens so dringende Sehnsucht ist jedoch unerfüllt geblieben: Wieder blieb es bei einem vereinzelten Elfmetertreffer. Wie in Amsterdam, wo er den Ausgleich verpasste, hatte Leroy Sané auch in Paris die Szene des Abends. Er machte nichts Falsches, als er den Ball zu Timo Werner rüberschob, obwohl er nach seinem Solo auch selbst das 2:0 hätte schießen können. Aber der simple Querpass misslang, und somit hatte es Sané dann doch falsch gemacht.

Dass die jungen Kerle alle noch ein wenig zappelig sind, das hat Toni Kroos gesehen und letztlich nicht für gut befunden ("Jetzt stehen wir mit null Punkten da"). Dass so viele gute Ansätze zu weiteren Treffern in vermeidbaren Unfertigkeiten endeten, das war für Kroos' gehobene Ansprüche wahrscheinlich schwer zu verkraften - zumal nach all den gemeinsamen Vereinsjahren mit Cristiano Ronaldo.

Dennoch hat ihn dieser Abend erfrischt und inspiriert wie wohl lange kein Abend mehr mit der Nationalelf. Sané & Co, supermobil und ständig zum Durchstarten bereit, gaben Kroos immer wieder Gelegenheit zu Steil- und Gassenpässen. Passionierte Mittelfeldspieler und Ballverteiler lieben das, zumal wenn sie mangels Freilaufbewegung der Mitspieler monatelang zu Kurz- und Quer-Pässen verurteilt waren. Als Passgeber habe er "gerne Optionen, und die hatte ich heute", sagte Kroos. Man konnte diesen Satz für einen Ausdruck von Schwärmerei halten.

© SZ vom 18.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

1:2 gegen Frankreich
:Löw zeigt endlich Reformwillen

Der Bundestrainer überrascht mit seiner Aufstellung, verliert zwar das Spiel gegen den Weltmeister, gewinnt aber trotzdem ein bisschen. Er hat offenbar die richtigen Lehren gezogen.

Von Saskia Aleythe

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: