Es sei an die Animeserie Pokémon erinnert, deren prominentestes Fantasiewesen den Namen Pikachu trägt. Pikachu sieht von allen Spezies seiner Art am niedlichsten aus, trügerisch niedlich. In der Videospielwelt der Pokémon besitzt Pikachu die Fähigkeit, seine Gegner per "Donnerblitz" zu attackieren, auch um in seinem Körper gespeicherte Elektrizität zu entladen. Je weiter der Spieler im Level aufsteigt, desto mehr solcher Attacken zeigt Pikachu.
Ein kleiner Exkurs, warum der eher zufällig gewählte Spitzname Pikachu so spitzenmäßig zu seinem Träger Ricardo "Pikachu" Pietreczko aus Nürnberg passt. Der 29-Jährige tritt im Dartssport an und ist dort in den vergangenen zwölf Monaten jeglicher Niedlichkeit entwachsen. Nachhaltige Hinweise hinterließ Pietreczko am späten Sonntagabend im belgischen Wieze. Er war dort ins vorletzte Level der Belgian Darts Open vorgedrungen, ins Halbfinale des ersten Turniers der European-Darts-Tour dieses Jahres. Den bislang letzten Wettbewerb dieser Reihe hatte er im Oktober 2023 gewonnen - doch nun traf er seinen Endgegner.
Luke Littler bei der Darts-WM:The Little One
Ein 16-Jähriger aus der Nähe von Liverpool verblüfft die Darts-Szene. Bei seinem Debüt als jüngster WM-Teilnehmer der Geschichte im "Ally Pally" gewinnt Luke Littler sein Spiel im Stile eines Champions: Wird er der neue Phil Taylor?
Auf der Bühne wartete ein 17 Jahre alter Teenager namens Luke Littler aus England, in der Szene seit seinem Einzug ins WM-Finale als Darts-Wunderkind verklärt und von seinen Gegnern als auffällig treffsicher gefürchtet. Der Mann aus Warrington bei Liverpool ließ Pietreczko mit einer Lässigkeit abblitzen wie ein britischer Disko-Türsteher Gäste mit falschem Schuhwerk. In Legs lautete der Endstand aus Sicht des Nürnbergers 3:7 - und der reagierte auf seine Weise: mit Pikachus Donnerblitz.
Nicht zum ersten Mal reagiert Pietreczko auf der Dartsbühne empfindlich
Noch auf der Bühne ergriff er zwar die Hand des Siegers, allerdings weniger als Gratulant, eher wie einer, der eine ernst gemeinte Botschaft mitzuteilen hat. Stinksauer wirkte Pietreczko, ähnlich wie im Dezember beim Grand Slam of Darts, als er gegen die 19-jährige Engländerin Beau Greaves vom britischen Heimpublikum gnadenlos ausgepfiffen wurde - und auf der Bühne mit Zynismus Richtung Zuschauer gestikulierte. Pietreczko wirkt nach wie vor nicht wie einer, der höflich abnickt und hinnimmt - sondern ist ein eher nonkonformer Branchenvertreter.
Und Littler? War offenbar kaum vom Donner gerührt, er machte eine Handbewegung, als wolle er sagen: Was willst du eigentlich? Kurz darauf warf er neun perfekte Darts gegen Finalgegner Rob Cross, ein sogenannter Neun-Darter, und gewann bei seinem European-Tour-Debüt direkt den Titel. "Keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe, keine Ahnung, was er gesagt hat", schrieb Littler später bei Facebook über Pietreczko. Er habe nur etwas Ähnliches wie"dann mach es nicht nochmal" verstanden.
Pietreczko hatte zuvor ein starkes Turnier gezeigt und saisonübergreifend sein neuntes European-Tour-Spiel in Serie gewonnen. Nach den sechs Siegen von Hildesheim schaltete der WM-Achtelfinalist Luke Woodhouse (England) 6:5 aus, Ryan Joyce (England) 6:4 und Johnny Clayton (Wales) 6:2. Nach der Pleite gegen Littler machte er sich eilig aus der Halle, hinterließ aber noch in der Nacht auf Instagram Hinweise auf den Grund, warum er sich so über Littler geärgert hatte. "Ich hab' ihn ja sehr geschätzt, dass man in so einem Alter so ein Spiel spielen kann, aber ich hoffe, die Arroganz bestraft ihn", stand dort geschrieben.
Offenbar störte sich Pietreczko auf der Bühne daran, dass sein Gegner unkonventionelle Wurfkombinationen auf der Zielscheibe gewählt hatte. Beim Stand von 3:1 versuchte Littler sich in einem sogenannten Checkout von Doppel-20, Doppel-20 und Bullseye; eine sehr schwierige Variante, die nur wenige Profis spielen. Littler verfehlte diese Wurfkombi prompt und verlor das Leg. 2:3 stand es nur noch - doch es war "Pikachu" anzusehen: Das Pokémon in ihm brodelte.