Darts-Profi Ricardo Pietreczko:Pikachu mit den magischen Händen

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Zurückhaltend, schmale Figur, aber als Darts-Profi ein Pfundskerl: Profi "Pikachu" Ricardo Pietreczko, hier bei seinem Turniersieg in Hildesheim. (Foto: Christian R. Meurer/dpa)

Der gelernte Maler Ricardo Pietreczko hat einen der größten Erfolge der deutschen Dartsgeschichte verbucht. Der zurückhaltende Nürnberger fordert bei der EM den Titelverteidiger - und steht für einen Trend in der Weltspitze.

Von Korbinian Eisenberger

Die Geschichte des deutschen Malers Ricardo Pietreczko ist unweigerlich mit dem japanischen Zeichner Ken Sugimori verbunden. Sugimori hat sich - Kenner dürften Bescheid wissen - als Illustrator der nicht ganz unbekannten "Pokémon"-Figuren einen Namen gemacht, einer Anime-Reihe über kleine, angriffslustige Monster. Eines der kleinsten und vergleichsweise unbekannten Pokémons aus Sugimoris Feder heißt mit deutschem Namen "Pichu". Pichu gewinnt im Lauf der Serie merklich an Größe und entwickelt sich zu Pikachu, zum berühmtesten aller Pokémons. An dieser Stelle kommt Pietreczko ins Spiel, der sich unlängst ebenfalls einen Namen gemacht hat - allerdings nicht wegen seiner Stift- oder Pinselstriche.

Pietreczko hat sich vom Handwerker zum Dartsprofi entwickelt. Wenn der 29-Jährige auf die Bühne kommt, begrüßen ihn seine Anhänger schon mal vorsorglich mit "Pikachu"-Rufen. So lautet sein Sportler-Spitzname, er trägt ihn zur Erinnerung auf seinem Trikot. Und vor zehn Tagen, da brüllte plötzlich eine ganze Halle diesen Pokémon-Namen. Diesmal nach dem Spiel, oder besser: nach dem ganzen Turnier.

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Dem Nürnberger ist etwas gelungen, was vor ihm erst ein deutscher Dartsspieler (Max Hopp 2018) vollbrachte: Pietreczko darf sich damit rühmen, ein Turnier auf der Profitour des Weltdartsverbands (PDC) gewonnen zu haben. Auf dem Weg zum Titel beim Wettkampf der sogenannten European Tour in Hildesheim besiegte er unter anderem den dreimaligen Weltmeister Michael van Gerwen aus den Niederlanden (der stets neongrün gekleidete "Mighty Mike" gäbe sicher als giftiger Pflanzen-Pokémon "Bisasam" ein gutes Bild ab), ehe er im Endspiel auf die vielleicht schillerndste Figur der Szene traf: Darts-Doppelweltmeister "Snakebite" Peter Wright könnte wegen seines Irokesenhaupthaars auch locker unter dem Pokémon "Keldeo" firmieren, bekannt für seine wilde, bunte Frisur. Aber gegen den "Pikachu" vom Sonntagabend wäre wahrscheinlich kein Kraut oder Haar gewachsen gewesen.

Gabriel Clemens löste mit seinem Halbfinaleinzug bei der WM eine Art Darts-Hype in Deutschland aus

Im Finale vollführte der Deutsche ein aus irdischer Sicht praktisch unmögliches Kunststück: Pietreczko versenkte beim 8:4-Sieg gegen Wright acht seiner acht Doppelwürfe, jene Pfeile, die einen Spielabschnitt beenden und somit einen Punkt (von im Endspiel acht nötigen Punkten) sichern. Er verbuchte also eine 100-Prozent-Doppelquote, eine außergewöhnliche Rarität.

Es sind Geschichten wie die des Malers Pietreczko, die Zuseher für Darts begeistern. Ähnlich wie die des Schlossers Gabriel Clemens aus Saarwellingen, der mit seinem Halbfinaleinzug bei der WM zum Jahreswechsel eine Art Darts-Hype in Deutschland ausgelöst hatte. Scheinbar einfache Handwerker, die Darts einfach mal ausprobierten, ehe sie feststellten, dass ihre Hände magische Momente erzeugen können. Dabei schien Pietreczko die Magie schon abhanden gekommen zu sein.

Anfang 2022 hatte er erstmals die Tourkarte der PDC erhalten, also die Berechtigung zur Teilnahme an großen und bisweilen ganz großen Turnieren. Doch plötzlich klappte nichts mehr. Statt die Doppelfelder zu treffen, umzingelten seine Pfeile diese. "Es ging ihm der Spaß verloren", erklärt sein Manager Micha Wattenberg. Das Management kann der Nürnberger sich leisten, Darts ist im Profibereich durchaus lukrativ. Allerdings fremdelte er unlängst noch mit der Atmosphäre unter den Besten. "Das ist was ganz anderes als auf Dorfturnieren", sagt der Manager. "Deutlich professioneller, konzentrierter, fokussierter." Pietreczko habe sich sogar "ein paar Wochen Gedanken darüber gemacht", mit Darts aufzuhören.

Er rang mit sich, ehe sich zwei sportliche Schlüsselmomente ergaben. Mitte 2022 erreichte Pietreczko innerhalb kurzer Zeit zweimal ein Achtelfinale bei PDC-Turnieren. Und er dachte sich: "Ich kann die Großen ja doch schlagen", zitiert ihn Wattenberg. So habe er "wieder Spaß am Spiel gefunden".

Der Maler von einst befindet sich derzeit im Dauerdartsmodus

Die Suche nach Pikachu gestaltet sich bisweilen nicht nur im Anime schwierig. Der Maler von einst befindet sich derzeit im Dauerdartsmodus. Kurz nach Hildesheim trat er bei vier weiteren PDC-Turnieren an, erreichte einmal das Viertel- und einmal das Halbfinale. "Ich nehme das Positive aus diesen Tagen mit ans Trainingsboard", erklärte er am Montag auf Instagram. Inzwischen bereitet er sich auf das in Deutschland wichtigste Darts-Event des Jahres vor: die am Donnerstag beginnende Europameisterschaft in Dortmund. In Runde eins trifft er dort am Freitagabend auf Titelverteidiger Ross Smith aus England (ab 18.45 Uhr, Dazn, ab 19 Uhr, Sport1). "Ich weiß, dass Ricardo sich gegen Ross große Chancen ausrechnet", erklärt sein Manager. "Wenn alles passt, ist auch in Dortmund wieder ein ganz tiefer Run drin." Darts-Deutsch für: Pikachu hofft, weit zu kommen.

Die Partie zwischen dem schmächtigen Pietreczko und dem athletisch gebauten Ross Smith lässt einen Wandel erahnen, der insbesondere bei jüngsten Dartsprofis zu erkennen ist: Immer mehr von ihnen hinterlassen Hinweise, wonach es offenbar nicht zwingend die Eigenschaften eines Pfundskerls braucht, um erfolgreich Pfeile auf Scheiben zu werfen. Das Management von Pietreczko spricht von einem "generellen Trend in der Weltspitze: junge Spieler, die alle etwas fitter sind". Wobei festzuhalten bleibt: Entscheidend wird immer die Position der Pfeile auf der Scheibe sein, nicht die Portion auf dem Teller.

Persönlich ist Pietretzko in diesen eng getakteten Wettkampftagen zwischen Hildesheim und Dortmund nicht zu sprechen. Er, der auf der Bühne fast schüchtern wirkt. Lange war das auch in Hildesheim so - ehe es zu dieser Szene kam: Nachdem Pietretzko seinen ersten Matchdart in die Doppel-16 geworfen hatte, warf er sich selbst bäuchlings auf den Bühnenboden, die Hände vor dem Gesicht. Wie vom Blitz getroffen, wenn man so will, was ja so schön passt zur Pikachu-Animefigur samt Zacken-Schwänzlein. Sollte sich Pietreczko auch den EM-Titel samt 120 000 Pfund Siegprämie schnappen, wäre dies eventuell Anlass für einen neuen Spitznamen. Die Erweiterung von Pikachu heißt in Ken Sugimoris Pokémonwelt passenderweise "Raichu".

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