Darts-WM:Pikachus feine asiatische Art

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Trotz Schmähungen gegen ihn vor Spielbeginn: Ricardo Pietreczko lässt Mikuru Suzuki bei der Darts-WM im Londoner "Ally Pally" keine Chance. (Foto: Tom Dulat/Getty Images)

Im jüngsten Dartsduell mit einer Frau reagierte Ricardo Pietreczko erbost auf Schmährufe. Bei seinem WM-Debüt im "Ally Pally" gegen die Japanerin Mikuru Suzuki gewinnt der Nürnberger souverän - und auffällig höflich.

Aus dem Alexandra Palace von Korbinian Eisenberger, London

Der erste Akt klang alles andere als verheißungsvoll, zumindest für jene, die es mit dem Pfeilwurfspezialisten Ricardo Pietreczko halten. Noch bevor der Nürnberger an diesem späten Dienstagabend auf die Bühne trat, erfüllte ein etwa zehn Sekunden langer Chor von Buhrufen die Halle des Londoner Alexandra Palace. Sobald der Name des 29-Jährigen erklang, schallte es durch den Raum. Gnadenlos. No mercy, wie die Engländer sagen. Seine Gegnerin, Mikuru Suzuki aus Japan, wurde zuvor bejubelt. Und bei Pietreczkos pikanter Vorgeschichte war die Frage an diesem Dienstagabend: Wie wird der Mann mit dem Dartsspitznamen "Pikachu" diesmal reagieren?

Die Antwort gab er sogleich mit einer Vorstellung, die ihrerseits das Prädikat no mercy verträgt. Pikante Vorgeschichte? Er fertigte die 41-jährige Suzuki in 3:0 Sätzen regelrecht ab, die Bilanz der Legs, von denen es für einen Satzgewinn im Darts drei braucht, lautete am Ende 9:1 für den Deutschen, der später am Abend sagen sollte: "Ich kann jeden schlagen. Ich bin hier, um dieses Turnier zu gewinnen."

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Der Prolog dieses Schauspiels auf der Bühne und schließlich hinter den Kulissen ist ein eigenes Theaterstück. Es begann vor fünf Wochen weiter im Nordwesten der Insel: Beim "Grand Slam of Darts", einem der wichtigsten Turniere im Pfeilspitzensport, war Pietreczko in Wolverhampton erstmals gegen eine Profispielerin angetreten. Er traf auf die Engländerin Beau Greaves, die weltweit beste Frau ihres Fachs. Die Zuschauer in Wolverhampton pfiffen und buhten den Mann auf der Bühne (der noch dazu kein Engländer ist) aus - no mercy - und Pietreczko reagierte, indem er dem Publikum unverkennbar in zorniger Gestik wie Mimik seine Missbilligung signalisierte. Er verlor das Spiel, schied aus dem Turnier aus und war stocksauer auf das Wolverhamptoner Publikum. In seinem abschließend siegreichen aber bedeutungslosen Match gegen Nathan Aspinall machte er das abermals deutlich. Alles vor TV-Kameras.

Zur Wahrheit gehört, dass Pietreczko erst seit Kurzem dabei ist im Theater der Besten. Er würde von sich kaum behaupten, Medienprofi zu sein. Er reagiert eher aus dem Bauch raus. Bei einem Turnier in Deutschland, als wiederum sein Gegner ausgepfiffen wurde, hatte er etwa ungefragt am TV-Mikro darum gebeten, Schmähungen zu unterlassen und die Konzentration dem Applaus zu widmen. Nun, manche pfeifen halt aufs Jubeln.

Der Einfluss des Publikums im Darts ist massiv - und erlaubt. Es ist nicht wie im Tennis, wo Dazwischengrölen oder Pfeifen verpönt ist. Im Darts wird zwar bisweilen ermahnt, selten sanktioniert, aber es kommt vor.

Nicht erlaubt ist zum Beispiel, Sachen auf die Bühne zu werfen. Deswegen zupfte ein Ordner am Dienstagabend während Pietreczkos Spiel gegen Suzuki einem als Baby verkleideten Fan den Gummischnuller aus dem Mund. Begründung von ganz oben, so der Ordner: bei Schnullern handle es sich um potenzielle Wurfgeschosse. Nicht alles ist restlos logisch in diesem irrwitzigen Palast, aber muss es das sein?

Potentielles Wurfgeschoss: Schnuller sind im Alexandra Palace auch als Teil der Verkleidung unerwünscht, der Ordner hat das Beweisstück gesichert. (Foto: Korbinian Eisenberger / OH)

Und während der Fan vor der Bühne vergeblich um seinen Gummischnuller flehte, bahnte sich auf der Bühne ein Déjà-vu an: ein Chor aus Buhrufen gegen Pietreczko, die zumindest im hinteren Teil des Hauptsaals nahezu alles übertönten. Keine "Pikachu! Pikachu!"-Sprechgesänge, wie Mitte Oktober, da der Nürnberger als erster Deutscher seit Max Hopp 2018 ein Turnier auf der prominent besetzten European Tour gewonnen hatte. "Pikachu" ist seither nicht mehr allein eine Figur der japanischen Animeserie Pokemon - sondern das Dartstalent aus Deutschland.

So war es die doppelte Ironie dieser Begegnung mit Suzuki: Abermals eine Frau, nun auch noch aus dem Ursprungsland des animierten Pikachu. Und so kam es, wie es kam.

Noch bevor der erste Pfeil geworfen war, ereignete sich eine kaum merkliche, aber vielleicht die Szene dieses Abends: Die Buhrufe gegen den Deutschen waren soeben verklungen, die englische Version der Pokemon-Hymne war gut zu hören: Da trat Pietreczko auf die Bühne und verneigte sich lächelnd vor seiner Gegnerin, nach höflicher japanischer Art. Suzuki wirkte freudig überrascht, ehe sie seinen Gruß nicht minder lächelnd mit einer Verneigung erwiderte. Anschließend verbeugte sich Pietreczko auch noch vor den inzwischen, nun ja, ziemlich vollen Rängen, es war schon spät. Mit Spielbeginn waren die Schmährufe gegen ihn verstummt, fortan meldeten sich im Ally Pally nahezu ausschließlich seine Fans zu Wort. Es tönte: "Pikachu! Pikachu!"

"Auf der Bühne war es sehr schön, ich habe mit mehr Gegenwehr vom Publikum gerechnet", erklärte Pietreczko nach der Partie. Dass diese nicht stärker ausfiel, lag wohl vor allem an ihm selbst: Vom ersten Wurf an, direkt ins beliebte Triple-20-Feld, hatte er dominiert und demonstriert, dass seine Treffsicherheit auf die Doppelfelder beachtlich ist. Seine Doppel-Bilanz am Dienstagabend: 50 Prozent in doppelter Hinsicht, sie gilt jetzt auch in Duellen mit weiblichen Profis.

In Runde zwei trifft Pietreczko am Samstag (ab 13.30 Uhr, Dazn, Sport1) auf einen männlichen Konkurrenten aus England, Callan Rydz, gegen den er bei drei Niederlagen einmal gewonnen hat. Solche Statistiken, erklärte Pietreczko hierzu, hätten für ihn keine große Bedeutung. Nein danke also, höflich für: no mercy.

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