Champions League:Das Dogma wackelt

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"Nach 1272 Spielen als Trainer habe ich niemandem etwas zu beweisen", findet Carlo Ancelotti, 63, derzeit Übungsleiter bei Real Madrid. (Foto: Florencia Tan Jun/Getty)

Bei Real Madrid werden Gerüchte genährt, Klub-Boss Florentino Pérez und Trainer Carlo Ancelotti hätten sich wie schon 2015 entliebt. Coacht der Italiener bald die Seleção - obwohl es in Brasilien als Blasphemie gilt, einen Ausländer zu holen?

Von Javier Cáceres

Die Erfahrung gibt Carlo Ancelotti ein zusätzliches Maß an Gelassenheit, und die seine war immer schon legendär. Irritation macht sich beim Italiener auf eine Weise bemerkbar, die man längst für einen integralen Bestandteil seiner Physiognomie halten darf: Er wölbt markant eine Augenbraue. Und er lässt sie wieder entspannen, wenn er etwas Belustigendes hört. Zum Beispiel in der vergangenen Woche, als das von ihm trainierte Real Madrid beim FC Barcelona vorbeischaute - und ein kleines Trümmerfeld hinterließ. Real siegte 4:0 und zog damit ins spanische Pokalfinale ein.

Ob er das Gefühl habe, dass er es wieder allen gezeigt habe, wurde Ancelotti, 63, gefragt. Er antwortete: "Nach 1272 Spielen als Trainer habe ich niemandem etwas zu beweisen."

Das kann man wohl so stehen lassen. Ancelotti ist der einzige Trainer, der in den fünf besten europäischen Ligen Meister wurde: In Italien holte er 2004 das Scudetto mit dem AC Mailand, in England siegte er 2010 mit dem FC Chelsea, in Frankreich gewann er 2013 mit Paris Saint-Germain den Titel, in Deutschland führte er 2017 den FC Bayern zur unvermeidlichen Bundesligakrone, in Spanien wurde er 2022 Meister mit Real. Dass der Lorbeer dort gerade welk ist, weil Madrid am Samstag mit einer B-Elf (unter anderem ohne Toni Kroos) gegen den FC Villarreal 2:3 unterlag? Und wenn schon! Die volle Konzentration bei Real gilt derzeit den Viertelfinal-Duellen mit dem FC Chelsea (Hinspiel: Mittwoch, 21 Uhr) - und dem Kampf um einen möglichen, beispiellosen fünften Champions-League-Titel für den Trainer Ancelotti.

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Er hat den Henkelpott schon vier Mal in die Luft gestemmt - zwei Mal mit Milan, zwei Mal mit Real Madrid, zuletzt im Vorjahr beim Finale in Paris-St.-Denis. Ein einziges Mal hat Ancelotti ein Champions League-Finale verloren, auf absurde Art: 2005 mit Milan, nach einer 3:0-Halbzeitführung gegen den FC Liverpool, der unter anderem den früheren Ancelotti-Schüler und heutigen Leverkusener Trainer Xabi Alonso aufbot. Das Drama damals fand am diesjährigen Finalort Istanbul statt. Eine kleine persönliche Revanche also am Bosporus, gegen welchen Gegner auch immer, das wär's wohl noch ... Und dann? Addio?

Die Frage, ob er es irgendjemandem noch zeigen möchte, ereilte Ancelotti auch deshalb, weil in Madrid seit Monaten verstärkt über seine Zukunft geredet wird. Sein seit Juli 2021 gültiger Vertrag läuft zwar erst im Sommer 2024 aus. Aber es galt in Madrid schon vor Monaten als offenes Geheimnis, dass der Vereinsboss Florentino Pérez und Ancelotti sich - wie schon zum Ende der ersten Amtszeit des Italieners in Madrid - entliebt haben. Und dass Pérez deshalb angesichts der Gerüchte frohlockt, die von der anderen Seite des Atlantiks kommen. Sie besagen, dass Ancelotti neuer brasilianischer Nationaltrainer werden und Real Madrid noch eine Ablöse einstreichen könnte.

Der bisherige Amtsinhaber, Adenor Leonardo Bacchi, genannt Tite, war nach der WM in Katar gegangen. Das von Brasiliens Verband ohne innere Überzeugung eingegangene Experiment mit dem U20-Coach Ramón Menezes ging Ende März nach nur 90 Minuten zu Ende - nach einer 1:2-Testspielniederlage in Marokko.

"Am Ende meiner Zeit bei Real Madrid werde ich mich wahrscheinlich zur Ruhe setzen", hatte Ancelotti noch vor einem Jahr gesagt

Die Spekulationen um eine Verpflichtung Ancelottis sind so gehaltvoll, dass eine Prognose in eigener Sache wackelt. "Am Ende meiner Zeit bei Real werde ich mich wahrscheinlich zur Ruhe setzen", hatte Ancelotti vor einem Jahr gesagt. Jetzt klingt alles anders: "Brasilien will mich, und das ist etwas, was mich verzückt", sagte Ancelotti, "doch es gibt einen Vertrag, den ich erfüllen möchte. Ich werde weitermachen, solange es mir Real Madrid erlaubt." Was nicht heiße, dass er sich die Türen verschließen würde. Er kenne den Brasiliens Verbandschef nicht, sagte Ancelotti neulich. Aber er würde ihn gerne treffen.

Nachrichtenwert hat das Interesse allein schon deshalb, weil es belegt, dass ein brasilianisches Dogma wackelt wie noch nie. Bislang hielt man es im Land des fünfmaligen Weltmeisters für Blasphemie, einen ausländischen Trainer zu holen. Nun scheint die Lobbyarbeit von früheren Real-Profis wie Ronaldo Fenômeno oder Roberto Carlos zu fruchten, zumal sie einhergeht mit einem Chor von mehr oder weniger aktuellen Ancelotti-Jüngern wie Vinícius Jr., Casemiro, Rodrygo und Militão, die den Italiener zu einem modernen Garibaldi machen wollen, zu einem Helden zweier Welten. "Ancelotti ist nicht nur der Favorit der Spieler, sondern auch der Fans", urteilte besagter Chef des brasilianischen Verbandes CBF, Ednaldo Rodrigues, am Rande der Klub-WM im Februar, die Ancelotti mit Real selbstredend gewann.

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Was wiederum zu der Frage führt, wer Ancelotti in Madrid beerben könnte. Dort wird mit maximaler Aufmerksamkeit verfolgt, wie gut sich der frühere Real-Profi Xabi Alonso in Leverkusen schlägt. Alonso gilt als enger Freund von Madrids U19-Coach Álvaro Arbeloa, der gerade in der Real-nahen Presse auffällig gehypt wird - eine Lösung mit Alonso als Chef und Arbeloa als Assistent gilt als denkbar. Ein weiterer Kandidat ist der Argentinier Mauricio Pochettino, der auch in England gehandelt wird. Gleiches gilt für den früheren Bayern-Trainer Julian Nagelsmann, der schon vor Jahren das Interesse der Real-Scouts weckte.

Doch für sie alle ist klar: Sie werden nur zu Kandidaten, wenn Ancelotti wirklich gehen sollte. Am Montag räumte Ancelotti im italienischen Radiosender RAI mit einem Gerücht auf - dass sein Assistent und Sohn Davide, der gerade in Wales die Profitrainerlizenz erwirbt, im Sommer Chefcoach des FC Basel werden könnte. Das sei kein Thema, sagte Ancelotti, "er fühlt sich wohl hier - und wir wollen hier weitermachen". Solange man sie lässt.

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