Taktik des VfL Wolfsburg:Alles erledigt nach 26 Minuten

Lesezeit: 3 min

Moritz Jenz (links) zupft erheblich am Trikot von Florian Wirtz. (Foto: Ina Fassbender/AFP)

Wie übermächtig ist Tabellenführer Leverkusen? Der VfL Wolfsburg erweckt im Auswärtsspiel den Eindruck, überhaupt kein Tor schießen zu wollen. Über eine besondere Form der Selbstaufgabe.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Es war ein Moment für Verschwörungstheoretiker, als Wolfsburgs Trainer Niko Kovac nach 63 Minuten den Angreifer Tiago Tomas auswechselte. Tomas war zwei Minuten zuvor dadurch aufgefallen, dass er mit hohem Tempo mehrere gegnerische Spieler angelaufen hatte, er verließ damit den Rahmen einer Partie, die sich beim Stand von 1:0 für den Hausherren Bayer Leverkusen in der Gangart andante comodo eingependelt hatte. Im Schritttempo tauschten die Leverkusener Kurz- und Mittelstreckenpässe aus, im Schritttempo folgten die in voller Formation am eigenen Strafraum postierten Wolfsburger dem ruhigen Gang des Balls. Älteren Zuschauern kamen Erinnerungen an den Nichtangriffspakt beim WM-Spiel Deutschland gegen Österreich 1982, als beide Teams ein jeweils zweckdienliches Resultat (1:0) durch Nichtstun konservierten.

Offenbar hielt Tiago Tomas den Trott nicht mehr aus, er rannte drauflos, sinnlos zwar, aber energisch - und prompt musste der Störenfried gehen. Weil er die Leverkusener damit zu sehr gereizt hatte, ernst zu machen gegen den VfL, der seit dem Feldverweis gegen Moritz Jenz in der 26. Minute in Unterzahl spielte? Oder weil er mit seinem Eifer den Masterplan von Niko Kovac störte, der für die Schlussphase eine Riesenüberraschung geplant hatte und den Gegner bis dahin durch maximale Passivität einzuschläfern suchte?

Wie bei allen Verschwörungstheorien gibt es keine befriedigende Auflösung. Kovac nahm nicht dezidiert Stellung zum Fall Tomas, und sein mutmaßlicher Masterplan scheiterte just, als er ihn umsetzen wollte. Gerade als er die Offensivkräfte Kevin Behrens und Patrick Wimmer zur Einwechslung bereitstellen ließ, erzielte Florian Wirtz das 2:0 für Bayer 04 und rundete den Abend ab: Bayer blieb erneut unbesiegt, im 36. Pflichtspiel der Saison, Wolfsburg erneut sieglos, in der zehnten Ligapartie hintereinander.

Selten hat sich ein ambitionsloseres Team in der Bayarena vorgestellt

Sollte Kovac wirklich vorgehabt haben, sein Team zum Überraschungsangriff in den finalen Minuten aufzurüsten, hat er das Manöver durch brillante Täuschung vorbereitet. Selten, vielleicht nie hat sich ein ambitionsloseres Team in der Bayarena vorgestellt als das des VfL am Sonntagabend. Weniger Aufbegehren gegen einen Rückstand, als die Wolfsburger leisteten, ist faktisch nicht möglich. Gegenangriffe des VfL fanden in der zweiten Halbzeit nicht statt, weil es nicht mal den Versuch dazu gab, welche zu starten. Als sich Bayer-Keeper Lukás Hrádecky einmal zu Boden warf, um eine Rückgabe zu sichern, war das lediglich ein gespielter Witz - es war kein Gegner auch nur in Rufweite.

Er habe "ein bisschen das Gefühl gehabt, dass die Wolfsburger das 0:1 behalten wollten", verriet Bayer-Regisseur Granit Xhaka. Auch Leverkusens Sportchef Simon Rolfes suchte nach höflichen Worten, als er seinen Eindruck des Wolfsburger Verhaltens schildern sollte: "Ja gut", erwiderte er heftig schmunzelnd, "es war schon eine Defensivtaktik."

SZ PlusDortmunds Sieg in Bremen
:Die schwer zu greifende Borussia

Die Saison des BVB bleibt undurchschaubar: Zur Abwechslung glänzt die Elf mit einem "dreckigen" Sieg bei Werder Bremen. Für einen Lichtblick sorgt auch Rückkehrer Jadon Sancho. Aber eine der zentralen Partien kommt erst noch.

Von Thomas Hürner

Niko Kovac hingegen scheute sich nicht, die Wahrheit zu sagen, auch wenn er sich damit vor dem Publikum und dem Konzern selbst belastete: "Nach der roten Karte war alles vorbei", erklärte er. Bei anderer Gelegenheit berichtete er ebenso frank und frei, im Moment der Dezimierung sei das Spiel "erledigt" gewesen. Seiner Logik zufolge hätte Schiedsrichter Daniel Siebert also die Partie nach 26 Minuten beenden dürfen, doch weil er das nicht darf, handelte Kovac selbst, indem er erst mal den Stürmer Jonas Wind gegen den Verteidiger Sebastiaan Bornauw tauschte und dann sämtliche Offensivhandlungen einstellen ließ. Was er auch nach Leverkusens 1:0 durch Nathan Tella (36.) beibehielt.

Abgesehen davon, dass Kovac anhand dieser Form der Selbstaufgabe erneut nicht den Eindruck machte, voller Leidenschaft um den Erhalt seiner Anstellung zu kämpfen, dürfen die Leverkusener das Vorgehen des gegnerischen Kommandeurs als Kompliment werten. Sie gelten inzwischen als Übermacht, bei der sich der Gast gern mit einer knappen Niederlage bescheidet. Gegen dieses Fußballwunder sei ein Bestehen in Unterzahl nahezu unmöglich, äußerten VfL-Sportdirektor Sebastian Schindzielorz und Torhüter Koen Casteels ehrfurchtsvoll.

"Das ist einfach die hervorragende Einstellung, die bei uns herrscht", sagt Torhüter Hrádecky

Auf den zweiten Treffer hatte Bayer zwar lange warten müssen, 899 Pässe standen schließlich auf dem Statistikzettel - souverän war der Auftritt dennoch. Wie ein Skatspieler die sogenannte Oma abräumt, so spielt der Tabellenführer jetzt seine Überzahl an Trümpfen lässig von oben herunter. "Tja", stellte Torhüter Hrádecky fest, "wieder ein Wochenende weniger." Aber hatte es die Leverkusener Kabine nicht beeindruckt, dass der Verfolger am Vortag acht Tore vorgelegt hatte? "Ich glaube, die Hälfte weiß nicht mal, wie das Ergebnis von Bayern gegen Mainz war", meinte Hrádecky: "Das ist einfach die hervorragende Einstellung, die bei uns herrscht. Alle leisten hervorragende Arbeit, gehen dann nach Hause und genießen das Leben."

Wann es angesichts all der eindeutigen Tatsachen auch für ihn an der Zeit wäre, "darüber zu reden", über dieses Ding namens Meisterschaft, wurde Xabi Alonso am Ende des Abends gefragt. "April!", antwortete Bayers Trainer sofort und alle Zuhörer lachten. Denn jeder wusste, dass er im April auf dieselbe Frage antworten wird: Mai!

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusKimmich und Goretzka
:Da sind sie wieder, nur woanders

Der FC Bayern glänzt beim 8:1 gegen Mainz mit lange vermisster "Spielfreude" und "Leichtigkeit". Dabei fallen zwei Spieler in ihren neuen Rollen auf: Rechtsverteidiger Joshua Kimmich und Spielmacher Leon Goretzka.

Von Sebastian Fischer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: