Carlo Ancelotti, 64, tritt sein letztes Vertragsjahr bei Real Madrid als sogenannte "lahme Ente" an, wie US-Präsidenten in ihrem letzten Amtsjahr genannt werden. Wie der Präsident des brasilianischen Verbandes CBF, Ednaldo Rodrigues, am Dienstag (Ortszeit) dem TV-Sender Globo sagte, solle der frühere Bayern-Trainer Ancelotti Brasiliens Fußball-Nationalteam bei der Copa América 2024 anführen. Bis dahin werde der ehemalige brasilianische Nationalspieler Fernando Diniz, 49, seine derzeitige Tätigkeit als Coach des Erstligisten Fluminense (Rio de Janeiro) mit dem Nationaltrainer-Job kombinieren und bei den ab September anstehenden WM-Qualifikationsspielen auf der Bank der Seleção sitzen. "Wir bezeichnen Diniz nicht als Interimscoach, er ist der Nationaltrainer", betonte Verbandschef Rodrigues.
Die Gerüchte über eine bevorstehende Verpflichtung Ancelottis kursieren schon seit einigen Monaten. Zwischenzeitlich galt sogar als möglich, dass Ancelotti zum Ende der vergangenen Saison bei Real Madrid abgesetzt wird. In diesem Fall aber wäre wohl eine Ablöse fällig geworden, die Brasiliens Verband nicht zahlen wollte oder konnte. Der Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung der CBF - in Madrid gingen da gerade die Türen der After-Hours-Clubs auf - wurde in der spanischen Hauptstadt dennoch als überraschend empfunden.
Dass es nun wegen der neuen Entwicklung zum Eklat kommt, galt am Mittwoch gleichwohl als unwahrscheinlich. Nach Angaben der spanischen Sportzeitung Marca vom Mittwoch waren Real Madrid und sein Präsident Florentino Pérez über die langfristigen Wechselpläne Ancelottis laufend informiert. Sie würden daher auch nichts an der grundsätzlichen Bereitschaft ändern, das letzte Vertragsjahr mit dem Italiener wie geplant mit Leben zu füllen. Unabhängig davon werde einmal mehr "der Fußball sein Urteil darüber sprechen, was auf der Trainerbank von Real Madrid passiert", schrieb Marca.
In Madrid wollen sie nicht ausschließen, Ancelotti im Falle einer triumphalen Saison eine Vertragsverlängerung anzubieten
Das Blatt fügte hinzu, "die Logik" gebiete es, dass "der Kopf von Ancelotti in Gefahr geraten könnte, wenn es zu zwei oder drei schlechten Resultaten kommen sollte". Auf der anderen Seite wolle bei Real Madrid aber niemand das gegenteilige Szenario ausschließen: das Angebot einer neuerlichen Vertragsverlängerung an Ancelotti, sollte der spanische Rekordmeister unter dem viermaligen Champions-League-Sieger eine triumphale Saison hinlegen.
Ancelotti, der als einziger Trainer in allen fünf großen Ligen der Welt Meister wurde (Italien, England, Deutschland, Frankreich und Spanien), steht seit Juni 2021 bei Real Madrid unter Vertrag. Er hatte den spanischen Rekordmeister zuvor schon einmal trainiert, von 2013 bis 2015. Nach seinen beiden Königsklassensiegen mit dem AC Mailand (2003 und 2007) wurde er auch mit Real zwei Mal Champions-League-Sieger. 2014 gewann er das Finale von Lissabon gegen Reals Stadtrivalen Atlético Madrid; 2022 stand er beim 1:0-Endspielsieg der Madrilenen gegen den FC Liverpool von Jürgen Klopp an der Seitenlinie. In jenen Tagen sagte er in einem Interview mit der italienischen Zeitung Il Messagero, dass er seine Trainerlaufbahn nach dem Ende seines Engagements bei Real Madrid beenden würde. Dann aber erreichten ihn Sirenengesänge vom Zuckerhut, die ihn umstimmten.
Weder fußballerisch noch in Fragen der Menschenführung weist Diniz' Stil Ähnlichkeiten mit Ancelotti auf
Die Verlockung ist auch enorm. Ancelottis Auftrag lautet, Brasilien zum sechsten WM-Titel insgesamt und zum ersten Turniersieg seit 2002 zu führen. Damals besiegte Brasilien im Finale das DFB-Team mit 2:0. Ancelotti war bei zwei Weltmeisterschaften als Aktiver dabei (Mexiko 1986, Italien 1990), nie aber als alleinverantwortlicher Trainer. Zu Beginn seiner Trainerkarriere arbeitete er aber als Assistent des früheren italienischen Nationalcoachs Arrigo Sacchi (1992 bis 1995). In dieser Funktion nahm er auch an der WM 1994 in den USA teil. Italien verlor damals das Finale von Pasadena im Elfmeterschießen - gegen Brasilien.
Sollte Ancelotti seine offenbar getätigte mündliche Zusage an die Brasilianer einhalten und 2024 nach Südamerika wechseln, würde er zum ersten ausländischen Seleção-Trainer seit den 1960er Jahren werden - ein Kulturbruch. Zuletzt war die Nationalmannschaft vom glücklosen U20-Trainer Ramon Menezes betreut worden.
"Es ist ein Traum und eine Ehre", sagte Diniz nach der Vertragsunterzeichnung vom Dienstag, er sei von "enormem Stolz" erfüllt, "Dienst an der Seleção tun zu dürfen". Er wird der erste Trainer seit Vanderley Luxemburgo 1998, der gleichzeitig die National- und eine Klubmannschaft Brasiliens leitet. Luxemburgo war seinerzeit Coach bei Corinthians in São Paulo. Fluminense wiederum hat sich schon drei Mal den Trainer mit der Seleção geteilt - zuletzt nach dem WM-Sieg in Mexiko 1970, als Mário Lobo Zagallo sich auch den Job bei "Flu" zumutete.
Die Ernennung von Diniz als Übergangscoach - oder "técnico tampão", wie ihn O Estado nannte, Tampon-Trainer - gilt in der brasilianischen Fachpresse als überraschend. Weder fußballerisch noch in Fragen der Menschenführung weist Diniz' Stil Ähnlichkeiten mit Ancelotti auf - außer in den Augen von Verbandschef Rodrigues. "Seine Vorstellungen vom Spiel ähneln jenen des Trainers, der bei der Copa América antreten wird, Ancelotti", sagte der CBF-Chef.
