Seleção gegen Argentinien:Brasilien siegt nicht mal mehr mit Knüppeln

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Argentinische Spieler versuchen, die Menge zu beruhigen, nachdem vor dem Spiel eine Schlägerei zwischen brasilianischen und argentinischen Fans ausgebrochen ist. (Foto: Silvia Izquierdo/dpa)

Chaos auf den Rängen, Pleite auf dem Rasen: Beim "Clásico" Südamerikas leistet sich Brasilien beim 0:1 gegen Argentinien in Rio de Janeiro die nächste Peinlichkeit - und Argentinien muss sich plötzlich fragen, ob Weltmeistertrainer Scaloni weitermacht.

Von Ralf Itzel, Rio de Janeiro

Viel tiefer kann die Seleção jetzt nicht mehr sinken, darüber herrscht Einigkeit in Brasilien. Diskutiert wird nur die Frage, wo die Blamage größer ist: auf dem Rasen oder bei der Organisation?

Auf dem Grün haben die Kanariengelben Dienstagnacht zum dritten Mal nacheinander verloren, in der Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft 2026 ging es nach den Pleiten in Uruguay (0:2) und Kolumbien (1:2) diesmal gegen den aktuellen Titelträger und Erzfeind Argentinien schief. Das 0:1 (0:0) gegen Lionel Messi und seine Freunde im Estádio Maracanã ist Brasiliens erste Heimniederlage überhaupt in der Geschichte der WM-Qualifikation. In Südamerikas Zehnergruppe ist der Rekordweltmeister damit auf Rang sechs zurückgefallen, dem letzten direkten Platz für die Endrundenteilnahme. Peinlich.

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Viele der 68 000 Fans verließen die Arena noch vor dem Schlusspfiff, und von den Verbliebenen begleiteten einige die letzten Pässe der Gäste mit spöttischen, immer wiederkehrenden "Olé"-Rufen. Dabei hatten sich die Argentinier, abgesehen vom Kopfballtor von Nicolás Otamendi nach einem Eckball (63.), kaum eine Chance erspielt. Selbst Messi wurde von den gut verteidigenden Brasilianern aus dem Spiel genommen, allerdings behinderte den Kapitän auch eine Adduktorenverletzung, wegen der er sich von Ángel Di María ersetzen ließ (78.).

Die jungen Gastgeber zeigten auch ohne die verletzten Neymar und Vinícius Junior den besseren Fußball, scheiterten aber an der Abschlussschwäche und auch daran, dass der chilenische Schiedsrichter nur brasilianische Fouls nachhaltig ahndete. Er zeigte drei gelbe und eine rote Karte (Joelinton, 81.). Von den Argentiniern wurde trotz vergleichbarer Härte niemand bestraft.

Vielleicht dachte sich der Unparteiische, dass den Gästen schon übel genug mitgespielt worden war. Denn vor dem Anpfiff kam es zu üblen Krawallen im Fanblock der Argentinier, Folge einer fatalen Fehlentscheidung des brasilianischen Fußballverbandes CBF, der später versuchte, die Schuld der Polizei zuzuschreiben. Sie hatte die Partie als "risikoarm" eingestuft. Das war allein deshalb überraschend, weil es vor wenigen Wochen beim brasilianisch-argentinischen Finale der Copa Libertadores zwischen Fluminense und Boca Juniors in Rio zu Krawallen gekommen war.

Sitzschalen fliegen, Prügeleien beginnen, die Militärpolizei rückt an

Den gefürchteten, "Barra Bravas" genannten Hooligans aus Buenos Aires und Umgebung waren die Ränge ganz unten hinter dem Tor im Süden zugewiesen worden - und nicht ein Block hoch oben und isoliert unter dem Stadiondach. So bildeten etwa 1000 streitlustige Argentinier einen hellblauen Fleck inmitten eines gelben Meeres der fanatischen Fans der Seleção. Schon vor dem Anpfiff wurde von beiden Seiten provoziert, bald flogen herausgerissene Sitzschalen hin und her. Als Pfiffe die argentinische Nationalhymne begleiteten, begannen Prügeleien. Brasiliens Militärpolizei eilte herbei und keilte brutal mit Schlagstöcken auf die Argentinier ein, fünf Menschen schlug sie blutig.

Lionel Messi, noch mit dem Wimpel für die Seitenwahl in der Hand, trommelte die Kollegen zusammen, um in die Kurve zu laufen und die Landsleute zu schützen, darunter Familienangehörige der Profis. Torwart Emiliano Martínez legte sich sogar mit einem der Polizisten an.

Argentiniens Fußballer kehrten dann in die Kabine zurück. "So können wir nicht spielen", sagte Messi. Die Partie begann schließlich um 21.57 Uhr, fast eine halbe Stunde später als geplant, mit viel Aggressivität auf beiden Seiten. Fußball wurde eigentlich erst in der zweiten Halbzeit gespielt.

"Hässlich, dass so etwas passiert", kommentierte später Argentiniens Trainer Lionel Scaloni, "es ist traurig, sich der Welt so zu zeigen." Statt Werbung für den südamerikanischen Fußball wurde zum Jahresabschluss dessen fieseste Fratze präsentiert. Andererseits gereichten die Zwischenfälle den Argentiniern auch zu großem Stolz. "Sie gewinnen gegen uns nicht mal, wenn sie die Knüppel zücken", freute sich die argentinische Zeitung Olé.

"Diese Auswahl braucht einen Trainer im Vollbesitz seiner Kräfte. Ich muss nachdenken", sagte Scaloni

Scaloni lobte die Charakterstärke seiner Mannschaft, die auch nach der WM auf Siegkurs bleibt. Abgesehen vom Ausrutscher vergangene Woche gegen die starken Uruguayer des argentinischen Trainers Marcelo Bielsa im Stadion La Bombonera (0:2) haben die Argentinier alle ihre Spiele gewonnen, sie führen die WM-Qualifikationsgruppe Südamerikas an. Der Sieg jetzt wurde gefeiert wie ein Titelgewinn, aus der Umkleide drang der Jubel bis in die Pressezone. Umso überraschender, dass Scaloni zum Ende der Pressekonferenz sein eigenes Weitermachen infrage stellte.

Es sei "schwierig", sprach der 45-jährige, der die Albiceleste nach der WM 2018 übernommen hatte und mit ihr 2021 - ebenfalls durch einen 1:0-Sieg im Maracanã - gegen Brasilien die Copa América gewann, ehe 2022 der WM-Titel in Katar folgte. "Diese Auswahl braucht einen Trainer im Vollbesitz seiner Kräfte. Ich muss auf den Ball treten und sehr viel nachdenken", sagte Scaloni. Als ein Journalist nachfragte, ob das ein Rücktritt sei, sagte Scaloni "gracias" (danke) und verließ eilig den Saal.

Anschließend kam Fernando Diniz auf die Bühne, Brasiliens Coach nannte das Ergebnis "ungerecht". Mit seinem Klubteam Fluminense hatte er zwei Wochen zuvor an Ort und Stelle die Copa Libertadores gewonnen, als Interimstrainer der Nationalelf hat er eine der schlechtesten Serien der Historie mitzuverantworten. Doch auch hier trägt der Verband die Schuld, denn bald ein Jahr nach dem Rücktritt von Trainer Tite ist die Nachfolge noch immer nicht geklärt.

Der relativ unerfahrene, aber national angesehene Diniz wird indes nicht gestärkt, sondern nur als Platzhalter geduldet. Bei den nächsten Testspielen im März in London gegen England und Madrid gegen Spanien dürfte der 49-Jährige noch an der Seitenlinie stehen, dann soll er für die Südamerikameisterschaft in den USA, die zeitgleich mit der Europameisterschaft stattfindet, Carlo Ancelotti Platz machen. Die Ankunft des Italieners von Real Madrid verspricht Brasiliens Verband seit Monaten, unterschrieben ist noch nichts. Ein Korb von Ancelotti wäre die nächste Blamage.

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