Tennis in Wimbledon:Papa bringt den Kindern Pokale mit

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"Es gibt keinen Grund, warum ich hier kein gutes Turnier erleben sollte." Der zweimalige Wimbledonsieger Andy Murray beim Training in seinem Klub an der Londoner Church Road. (Foto: John Walton/dpa)

Andy Murray hatte sein Karriereende schon vor Augen. Nun hat er drei kleine Turniere gewonnen und startet in Wimbledon mit der Zuversicht, noch immer zu den besten Rasenspielern der Welt zu gehören.

Von Barbara Klimke, London

Am Tag, als Novak Djokovic in Paris seinen 23. Grand-Slam-Titel gewann, ist Andy Murray durch Surbiton gekurvt. Das Städtchen im Südwesten Londons, das einst zur Grafschaft Surrey gehörte, wird heute dem Bezirk Kingston upon Thames zugerechnet. Ein paar hübsche Jugendstilbauten sowie ein kleines Tennisturnier haben ihm regionale Bekanntheit verschafft; für Murray, dessen sechsköpfige Familie in dieser Ecke Englands wohnt, liegt es quasi vor der Haustür. Er spielte mit bei der Veranstaltung der Challenger-Kategorie, gewann das Finale und die Trophäe - den ersten Titel auf Rasen seit seinem zweiten Wimbledonsieg 2016. Dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr Richtung Norden, zum nächsten Wettbewerb.

Im Auto bietet sich Zeit zur Meditation, aber ehe womöglich Melancholie einsetzte, erreichte ihn eine Nachricht seiner Frau Kim, die den Dingen eine andere Betrachtungsweise verlieh. Sie habe von Djokovics Rekord auf dem Sand von Roland Garros gehört, sagte sie. Dann erzählte sie ihrem Gatten, wie stolz sie auf ihn sei, weil er sich mühsam durch die Niederungen zweitklassiger Challenger-Turniere rackere mit derselben Haltung, Hingabe und Disziplin wie immer: "Das", so berichtete Murray, "hat mir sehr viel bedeutet".

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Es ist ein ungewöhnlicher englischer Frühsommer für Andy Murray gewesen. Der 36-Jährige begab sich auf eine Tour durch die Provinz wie vielleicht das letzte Mal vor 20 Jahren; und im Kontrast zum gleichaltrigen serbischen Kollegen Djokovic, der mit Murray, dem Schweizer Roger Federer und dem Spanier Rafael Nadal einst die Pokalsammlerbande der "Großen Vier" im Tennis bildete, zeigt dies, wie weit die Karrierelinien, die eine Zeitlang fast parallel liefen, nun auseinander driften.

Mit Metallhüfte zurück auf Position 38 der Weltrangliste

Er wäre liebend gern noch einmal in der Position, um Grand-Slam-Titel mitzuspielen, hat Murray in Anerkennung von Djokovics phänomenalen Taten kürzlich bekannt: "Aber unsere Reisen haben einen unterschiedlichen Verlauf genommen." Der Ausgangspunkt ließ sich exakt bestimmen, es war der Beginn seiner Hüftbeschwerden, "unglücklicherweise, als ich am Zenit meiner Karriere war".

Denn Murray, der Olympiasieger von London und Rio de Janeiro, der 2016 im relativ fortgeschrittenen Alter von 29 Jahren zur Nummer eins im Welttennis aufstieg, hat den Platz an der Sonne schon bald danach wieder räumen müssen. Im Januar 2019 verabschiedete er sich humpelnd, unter Schmerzen und Tränen in Melbourne von den Australian Open und, wie er selbst und die Kollegen damals glaubten, im Grunde für immer von ernsthafter sportlicher Betätigung jeder Art.

Er begab sich unters Messer und ließ sich ein künstliches rechtes Hüftgelenk einsetzen. Als er sich ein halbes Jahr später auf den Tennisplatz zurück wagte, vor staunendem Publikum sogar einen tollkühnen Beckerhecht am Netz vollführte, witterten britische Medien eine Wunderheilung, die den hunderttausend Hüftkranken auf der Insel womöglich eine Hoffnung geben könnte. Murray, eher nüchtern veranlagt und ohnehin einer der vernünftigsten Menschen im Tenniszirkus, verwies lieber auf die spezielle OP-Methode, einen metallenen Oberflächenersatz am Gelenk.

Fast könnte man meinen, einen weiteren Schmerzensmoment von Andy Murray zu erleben; doch in Wahrheit ist es ein Glücksmoment nach seinem verwandelten Matchball im Wimbledon-Finale 2016 - sehr zur Freude seiner britischen Fans. (Foto: Glyn Kirk/AFP)

Seitdem hat er wieder regelmäßig schmerzfrei zum Schläger gegriffen. Aber jenes besondere Siegesvertrauen, das zu den phänomenalen Stärken seines Kollegen Djokovic zählt und diesem kürzlich auf dem Court Philippe-Chatrier in Paris Sendungsbewusstsein und Selbstgewissheit verlieh, ist Murray in der langen Leidenszeit teilweise abhandengekommen. Er hat es sich in diesem Sommer zurückzuerobern versucht, Meile um Meile auf den Straßen. Jetzt, drei Siege bei den zweitklassigen Challenger-Turnieren später - erst in Aix-en-Provence auf Sand, dann nacheinander auf Rasen in Surbiton und Nottingham - kehrt er mit einer gewissen Gelassenheit nach Wimbledon zurück.

In den vergangenen Tagen hat er im All England Club mit Djokovic trainiert, das erste Mal bei einem regulären Turnier (den Laver-Cup ausgenommen) seit seiner Hüftverletzung, wie er sich erinnerte. Und so konnte er verkünden: "Wo ich heute stehe, ist im Vergleich zu damals ein Unterschied wie Tag und Nacht, auch aus mentalen Gesichtspunkten, was die Freude am Spiel und am Wettkampf betrifft. Damals hatte ich das Gefühl, ich bin dazu nicht mehr in der Lage."

Von den Großen Vier sind nur noch Murray und Djokovic beim Wimbledonturnier

Es gehört zur Ironie des Sports, dass der schmerzgeprüfte Schotte, der vor vier Jahren in Melbourne schon sein Karriereende angekündigt hatte, nun neben Djokovic der einzige Verbliebene der "Großen Vier" in Wimbledon ist.

Wenn der Mann mit der Metallhüfte an diesem Dienstag auf dem Centre Court ins Turniergeschehen eingreift, zum vierzehnten Mal übrigens, dann ist er zwar nicht gesetzt, aber als Nummer 38 der Tenniswelt so hoch platziert wie seit der Operation nicht mehr. Sein Gegner Ryan Peniston, 27, aus Southend in Essex, gut 200 Plätze hinter ihm notiert, ist ein alter Bekannter, sie trainieren regelmäßig miteinander. Die Zweifel liegen hinter ihm: "Ich glaube, ich bin einer der besten Rasentennisspieler der Welt, und ich fühle mich auch körperlich gut", sagte Murray mit dem Realismus eines Berufsathleten, der im Laufe der Jahre drei Goldtrophäen auf dieser Grasnarbe erobert hat, zwei Mal den Wimbledon-Pokal mit der goldenen Ananas auf dem Deckel und ein Mal Olympiagold: "Es gibt keinen Grund, warum ich hier kein gutes Turnier erleben sollte."

Als er im Juni in Surbiton gewann, hat er dem Publikum bei der Siegerehrung erzählt, was seine vier Kinder ihm beim Abschied sagen, wenn er zu Turnieren aufbricht: Papa, bring doch mal einen Pokal mit! "Das ergab sich selten", sagte er. "Aber jetzt bringe ich einen mit." Andy Murray ist an einem Punkt der Karriere angekommen, da nimmt er mit, was kommt.

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