Die Turnierwoche in München begann Alexander Zverev mit einer prägnanten Feststellung, über die niemand debattierte. "Kalt ist es", sagte Zverev zur Eröffnung seiner Pressekonferenz am Sonntag, und kalt blieb es auch am Montag, weshalb man dem 25-Jährigen beim Training in Thermoshirt und Thermohose zusehen konnte. Gegen seinen Sparringspartner, den Chilenen Christian Garin, spielte sich Zverev warm für ein Turnier, bei dem es zwar äußerlich kalt ist, das aber inzwischen auch für einen gebürtigen Hamburger eine warme Atmosphäre bietet. Zwei Mal hat Zverev die BMW Open in den vergangenen neun Jahren gewonnen, allerdings noch nie bei derart spätwinterlichen Bedingungen, wie er anmerkte. Und auch noch nie unter solchen Voraussetzungen.
Zverev brachte aus Monte Carlo eine Debatte mit in die Heimat, die sich nun seit fünf Tagen hält und im übertragenen Sinne auch von Wärme und Kälte handelt. Einen der "unfairsten Spieler der Tour" hatte er den Russen Daniil Medwedew am vergangenen Donnerstag im Interview des Senders Sky genannt, zwanzig Minuten nachdem er ein knappes Match gegen ihn verloren hatte. Medwedew, 27, war im dritten Satz zwischendurch auf die Toilette entschwunden, hatte zwischen den Punkten immer wieder mit dem Publikum interagiert und irgendwann einen Netzpfosten entfernt. Es half ihm insofern, als dass Zverev sich von den Spielchen beeindrucken ließ und den dritten Satz knapp im Tiebreak (7:9) verlor. Wie sich herausstellte war das Duell auf dem Tennisplatz aber ohnehin erst das Vorspiel gewesen.
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Medwedew nämlich konterte tags darauf bei einer Pressekonferenz und riet dem abwesenden Zverev, er solle "lieber in den Spiegel schauen". Auch der Deutsche sei ein Spieler, der mit seiner Eigenart den Gegner provozieren würde, was wiederum Zverev am Sonntag in München mit der Feststellung widerlegte, auf (taktische) Toilettenpausen und Zuschauerdebatten habe er in seiner gesamten Karriere nie zurückgegriffen: "Ich gewinne und verliere mit Tennis." Die Kritik, die er im Eifer des Gefechts an Medwedew geäußert hatte, wollte er aber auch nicht zurücknehmen.
"Wenn er mit mir sprechen will, kann er gerne mit mir sprechen", sagt Zverev
Eine Antwort auf den letzten Kommentar ist - Stand Montagnachmittag - noch ausstehend, Zverev und Medwedew hätten die Debatte jedenfalls auch am Telefon klären können. Sogar auf russisch, in der Sprache, in der sie sich früher bei Jugendturnieren unterhalten haben. Damals seien sie gut befreundet gewesen, erinnerte sich Medwedew, der heute nach eigener Aussage nicht mehr allzu viel mit Zverev zu tun hat. Das beruht laut Zverev auf Gegenseitigkeit. Die Telefonnummern des jeweils anderen besitzen sie allerdings schon: "Wenn er mit mir sprechen will, kann er gerne mit mir sprechen", sagte Zverev.
Zwists über Fairness und Unfairness sind indes alles andere als eine neumodische Erscheinung im Tennis. Turnierdirektor Patrick Kühnen und Alexanders Zverevs Bruder Mischa hatten am Freitag bei der Auftaktpressekonferenz des Turniers gleich mehrere Beispiele parat; unter anderem sprachen sie Brad Gilberts Standardwerk zum Thema an: "Winning Ugly", dreckig gewinnen, nannte der ehemalige Profi Gilbert sein Buch über psychologische Kriegsführung zwischen Grundlinie und Netz, das offenbar bis heute unter Tennisprofis Anklang findet.
Mischa Zverev gab sogar zu, dass er Medwedews Provokation im Match fragwürdig, aber nicht allzu schlimm fand: "Was Daniil gemacht hat, war innerhalb der Regeln. Hätte ein Roger Federer ähnlich gehandelt? Wahrscheinlich nicht. Stefan Edberg? Wahrscheinlich nein. Brad Gilbert? Wahrscheinlich ja. Das gehört zum Sport dazu."
Es ist der letzte Schritt, der Zverev noch fehlt, nach seiner Rückkehr in die Weltspitze
Das ist eine Erkenntnis, die gerne nach dem Karriereende reift, von dem sowohl Zverev als auch Medwedew noch ein gutes Stück entfernt sind. Vieles an der hochgejazzten Auseinandersetzung hat wohl mit Rechthaberei und Siegeswillen zu tun, zwei Eigenschaften, die vor allem Medwedew dazu antreiben, mit Wort und Tennisschläger gleichzeitig zu spielen: Er würde vermutlich auch behaupten, dass in München herrliches Tenniswetter herrsche, würde es ihm dabei helfen, seinen Gegner zu besiegen.
Zverev hingegen hatte zumindest, was das Sportliche angeht, die Offenheit zur Selbstkritik. Er hätte das Match gegen Medwedew selbst zu Ende bringen können, mit besserem Tennis zur richtigen Zeit - und er müsse "irgendwann wieder beginnen, solche Spiele auch zu gewinnen". Es ist der letzte Schritt, der Zverev noch fehlt bei seiner Rückkehr in die Weltspitze, die elf Monate nach seiner schweren Knöchelverletzung in Paris zufriedenstellend verläuft, aber eben auch nicht mehr. "Wenn ich in Topform bin, gewinne ich das Match in zwei Sätzen, 6:3 und 6:4", sagte Zverev im Rückblick auf Monte Carlo.
"Er will unbedingt wieder gegen einen Top-10-Spieler gewinnen", sagte Bruder Mischa, der Zverevs Situation in Vergleichen mit den Besten der Welt metaphorisch ausdrückte: Alexander habe "den Schlüssel in der Hand", müsse aber noch durch die Tür gehen. In München bietet sich dazu frühestens im Halbfinale die Chance: Zverev könnte im Verlauf der Woche auf Holger Rune treffen, den jungen Dänen an Nummer sieben der Weltrangliste, der an der Cote d'Azur erst im Finale gegen Andreij Rublew verlor.