Traditionsklub in der Krise:Ajax ist nicht mehr Ajax

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Altbekannter Feuerwehrmann für Amsterdam: Louis van Gaal, Anfang Oktober bereits auf der Tribüne im Heimspiel gegen Alkmaar gesichtet, soll Ajax aus der Patsche helfen. (Foto: ANP/Imago)

Kein Trainer, kein Sportchef, Vorletzter in der Tabelle: Das große Ajax Amsterdam ist an einem emotionalen Tiefpunkt angelangt. Louis van Gaal soll als externer Berater helfen.

Von Ulrich Hartmann

Der schlechteste Saisonstart der Vereinsgeschichte mit nur einem Sieg in sieben Ligaspielen, zuletzt vier Niederlagen in Serie, dazu der vorletzte Tabellenplatz in der Eredivisie und am Montagabend die Freistellung des neuen Trainers Maurice Steijn, nachdem vor einem Monat bereits der deutsche Sportdirektor Sven Mislintat suspendiert worden war: Eine solch miserable Zeit hat das ruhmreiche Ajax Amsterdam noch nicht erlebt. Hinzu kamen Ende September zwei aufwühlende Spielabbrüche binnen einer Woche, erst wegen randalierender Ajax-Fans und sechs Tage später wegen eines schwerwiegenden Zusammenpralls zweier Spieler.

Ajax, seit 1966 in den Niederlanden in jeder Abschlusstabelle auf einem einstelligen Rang platziert, ist an einem emotionalen und faktischen Tiefpunkt angelangt. Am Sonntag verlor das Team beim Tabellenletzten FC Utrecht durch ein Tor der dänischen Gladbach-Leihgabe Oscar Fraulo in der 90. Minute mit 3:4. Tags darauf wurde Steijn beurlaubt. Während Louis van Gaal als neuer externer Berater schnell eine Strategie für die Rettung des erstmals abstiegsgefährdeten Klubs mitentwickeln muss, stehen dem zum Interimschef beförderten Co-Trainer Hedwiges Maduro und seinem bislang dysfunktionalen Kader mit dem Europa-League-Gruppenspiel am Donnerstag in Brighton und dem Ligaspiel am Sonntag bei Tabellenführer PSV Eindhoven heikle Aufgaben bevor.

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Seit der Gründung der ersten niederländischen Liga im Jahr 1956 sind nur drei Klubs noch nie abgestiegen: PSV Eindhoven, Feyenoord Rotterdam und eben Ajax Amsterdam. Ajax war der erste (1957) und häufigste Meister (36 Mal) und zieht auch stets die meisten Zuschauer an, zurzeit im Schnitt 54 000 pro Heimspiel, vor Rotterdam (47 500) und Eindhoven (33 500).

Der Absturz erfolgte in Etappen. Nachdem der Klub 2019 unter dem damaligen Trainer Erik ten Hag mit Spielern wie Matthijs de Ligt, Daley Blind, Frenkie de Jong oder Noussair Mazraoui noch das Champions-League-Halbfinale gegen Tottenham Hotspur, den Meistertitel und Pokalsieg erreicht hatte, musste Sportchef Marc Overmars Anfang 2022 wegen Fehlverhaltens gegenüber Mitarbeiterinnen zurücktreten. Kurz darauf wechselte Coach ten Hag zu Manchester United. Seither scheiterten mit Alfred Schreuder, John Heitinga und nun Maurice Steijn drei Trainer am Turnaround. Letztmals Pokalsieger war Ajax 2021, letztmals Meister 2022.

"Ich sehe eine schlechte Mannschaft mit schlechten Spielern", sagt Rafael van der Vaart

Im Sommer wurden mal wieder die besten Spieler verkauft: Mohammed Kudus (43 Millionen Euro zu West Ham United), Jurrien Timber (40 Millionen, FC Arsenal), Edson Alvarez (38 Millionen, West Ham) und Calvin Bassey (22 Millionen, FC Fulham). Die bekanntesten unter den derzeit enttäuschenden Fußballern im massiv umgebauten Ajax-Kader sind der niederländische Nationalstürmer Steven Bergwijn, der englische Angreifer Chuba Akpom, der kroatische Nationalverteidiger Josip Sutalo und der vormalige Stuttgarter Linksverteidiger Borna Sosa. Nach der Niederlage in Utrecht fällte Ajax-Legende Rafael van der Vaart im TV-Studio allerdings ein prägnantes, hartes Urteil: "Ich sehe eine schlechte Mannschaft mit schlechten Spielern."

Ajax sei nicht mehr Ajax, sagte van der Vaart. Zuletzt hatten mehrere identitätsstiftende Protagonisten den Klub verlassen. Der Kapitän Dusan Tadic wechselte nach fünf Ajax-Jahren zu Fenerbahce Istanbul, Geschäftsführer Edwin van der Sar trat ermüdet nach elf Jahren zurück, bevor er im Juli eine Hirnblutung erlitt und vorübergehend in Lebensgefahr schwebte, und der für Mislintat kürzlich zum Technischen Direktor beförderte Klaas-Jan Huntelaar pausiert wegen eines soeben erlittenen Burnouts. Für die Overmars-Position hatte man, bevor im Mai Mislintat verpflichtet wurde, dem Vernehmen nach auch den vormaligen Dortmunder Sportchef Michael Zorc angefragt, ebenso den langjährigen Bundesliga-Funktionär Michael Reschke, der einst in Leverkusen, beim FC Bayern und Schalke 04 die Kader plante und beim VfB Stuttgart sogar vorübergehend den Klub führte. Vor zwei Wochen kassierte Ajax von van der Vaart einen Korb, Steijn hatte ihn als Assistenten gewollt. Um den Ruf des Klubs steht es derzeit nicht allzu gut.

Hinzu kommen atmosphärische Störungen mit gewissen Fans und ein im doppelten Sinne schmerzhafter Spielabbruch in Waalwijk. Am Sonntag, 24. September, war zunächst das Heimspiel gegen Feyenoord in der 55. Minute beim Stand von 0:3 abgebrochen worden, weil Ajax-Fans unablässig Bengalos auf den Rasen feuerten. Drei Tage später wurde die Partie nachmittags fortgesetzt, Feyenoord gewann am Ende 4:0. Drei Tage später wurde das Spiel beim RKC Waalwijk in der 85. Minute beim Stand von 3:2 für Ajax abgebrochen, weil Waalwijks Torwart Etienne Vaessen nach einem Zusammenprall mit Ajax-Stürmer Brian Brobbey das Bewusstsein verloren hatte. Es geht ihm mittlerweile wieder besser.

Die restlichen sechs Minuten der Partie werden, weil kein früherer Termin zu finden war, am 6. Dezember ab 20 Uhr mit Zuschauern ausgetragen. An jenem Mittwoch werden die Ajax-Fußballer also gut 100 Kilometer gen Süden nach Waalwijk fahren, um dort sechs Minuten Fußball zu spielen. Ihnen bleibt zurzeit einfach nichts erspart.

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